I: Diskussionsentwurf für Europa-Leitsätze (1977)

Aus Beschlussdatenbank der SPD Schleswig-Holstein
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Gremium: Landesparteitag
Sitzung: Landesparteitag Tönning 1977
Bezeichnung: I
Antragsteller: Nicht aufgeführt


Beschluss: Angenommen


(Veröffentlicht in: „Zur Sache“ Nr. 3, Juni 1977 - Herausgeber: SPD-Landesverband Schleswig-Holstein)

Einleitung

Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Selbstverwirklichung durch Arbeit und Bildung sind die Grundwerte des demokratischen Sozialismus nicht nur innerhalb der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland, sondern die internationale Leitlinie einer Politik des demokratischen Sozialismus.

Seit Bestehen der Arbeiterbewegung haben demokratische Sozialisten immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die Völker Europas eine wirtschaftliche und politische Einheit bilden und Ausbeutung und Unterdrückung gemeinsam überwinden müssen.

Demokratische Sozialisten haben immer den engen Zusammenhang zwischen der Ideologie des Nationalstaats und den militärischen Konflikten zwischen den Nationalstaaten einerseits sowie der Unterdrückung und Benachteiligung arbeitender Menschen in der Industriegesellschaft andererseits betont. Wegen ihres Internationalismus haben demokratische Sozialisten über Jahrzehnte in einem politischen Abwehrkampf gegenüber den Ideologen des Nationalstaats gestanden.

Die demokratischen Sozialisten werden die Grundwerte des Sozialismus zu einem neuen Maßstab für das friedliche Zusammenleben der Menschen und Völker in Westeuropa machen: „Die Probleme in unserer hochindustrialisierten Welt sind so groß geworden, dass sie im regionalen und nationalen Rahmen allein nicht mehr gelöst werden können. Deshalb muss unser politischer Handlungsraum durch demokratisch kontrollierte europäische und internationale Entscheidungen erweitert werden, weil Probleme einer Region nicht ohne Wirkungen auf andere Regionen gelöst werden können.“ (Schleswig-Holstein-Programm des SPD-Landesverbandes)

Wenn in Zukunft wichtige Entscheidungen für die Sicherung des Weltfriedens auf europäischer Ebene fallen, sind die Lebensinteressen Schleswig-Holsteins in seiner Grenzlage zur DDR berührt. Wenn die wichtigen Entscheidungen zum Beispiel über die Zukunft der Werftindustrie Schleswig-Holsteins von der Struktur- und Regionalpolitik abhängen, die auf europäischer Ebene gemacht wird, berührt die europäische Entwicklung unmittelbar die Existenz vieler Arbeitnehmer in Schleswig-Holstein.

Wenn die Zukunft unserer Landwirtschaft und die Lebensbedingungen der Bauern und ihrer Familien sowie der Verbraucher heute schon weitgehend in Brüssel gemacht werden, muss unser Land Interesse an einer aktiven Europapolitik haben.

Wenn zukünftig die Möglichkeit besteht, dass wichtige Bestandteile des Sozialstaats in der Bundesrepublik der Gefahr einer „europäischen Harmonisierung“ ausgesetzt sind, berührt die Zukunft Europas auch die zukünftigen Interessen der Mehrheit unserer Bevölkerung.

Wenn die Erhaltung unserer Landschaft von einem europäisch wirksamen Umweltschutz abhängt, sind auch die Entwicklungschancen des schleswig-holsteinischen Fremdenverkehrs betroffen.

Die SPD Schleswig-Holsteins will deshalb, "dass die politische Macht der Mehrheit der Menschen international organisiert wird. Damit müssen wir in Europa anfangen. Wir wollen deshalb die politische und soziale Union Europas in einem parlamentarisch-demokratischen System mit direkt gewähltem Europa-Parlament verwirklichen. Wir wollen die Bildung europäischer Parteien anstreben und den Aufbau europäischer Gewerkschaften fördern. Wir brauchen europäische Tarifverträge, und wir müssen die Wirtschaftspolitik, die Sozialpolitik, die Gesundheitspolitik, die westliche Bündnispolitik‚ die Bildungspolitik, die Entwicklungshilfe gemeinsamen europäischen Maßstäben unterwerfen." (Schleswig-Holstein-Programm des SPD-Landesverbandes)

Widerstände gegen die Verwirklichung der Grundwerte

Die bisherige Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft und die sinkenden Möglichkeiten demokratisch gewählter nationaler Regierungen, im Alleingang mit den brennenden Problemen fertig zu werden, zeigt: Europa braucht einen eigenen Weg zwischen einem Kapitalismus der Konzerne einerseits und dem Kommunismus staatlicher Allgewalt andererseits. Europa braucht eine Perspektive des demokratischen Sozialismus zur Lösung der drängendsten Probleme:

  1. Die natürlichen Lebensbedingungen der Menschen sind in Gefahr.
    Die Rohstoffvorräte und die Möglichkeiten für die Wiederherstellung und Erhaltung einer sauberen Natur und Umwelt sind begrenzt. Die Fragen der zukünftigen Energiepolitik und der damit zusammenhängenden Möglichkeiten des Wirtschaftswachstums müssen beantwortet werden. Wer die Antwort auf diese Fragen in einer demokratischen europäischen Alternative verweigert, liefert die wirtschaftlich Schwächeren einer erbarmungslosen Verschärfung des Verteilungskampfes aus und fördert die Gefahr von autoritären Krisenlösungen. Die Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen bedeutet eine zusätzliche und schnell wachsende Gefahr für die ohnehin gefährdete Verwirklichung von Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Arbeit als Grundwerte des demokratischen Sozialismus.
  2. Die Freiheit der Bürger in Europa ist in Gefahr.
    Die bisherige Entwicklung der Gemeinschaft ist von einer Explosion des Waren- und Kapitalverkehrs gekennzeichnet, ohne dass eine gemeinschaftliche Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik mit dem Ziel entwickelt und durchgesetzt worden wäre, die Folgen zu kontrollieren. Das Resultat: Die Staaten Westeuropas wie auch der Dritten Welt sind weitgehend machtlos gegenüber multinationalen Konzernen, deren Preis- und Investitionspolitik vorrangig am Gewinn und am unkontrollierten Wachstum zu Lasten der breiten Mehrheit der Völker orientiert ist. Multinationale Konzerne betreiben über ihre Preispolitik bis heute eine Ausbeutung der Volkswirtschaften weniger entwickelter Länder. Gleichzeitig verfestigen sie deren Unterentwicklung, indem sie sie sowohl aus sogenannte "Billig-Lohn-Länder" durch den Einsatz schlecht bezahlter Arbeitskräfte ausnutzen als auch arbeitskräftesparende Technologien exportieren, die zwangsläufig die drückende Last der Arbeitslosigkeit in den Ländern verstärken.
    Der Macht der Großwirtschaft entspricht die Ohnmacht der Nationalstaaten, der Gremien der EG, des Arbeitnehmers und seiner Gewerkschaften, diese Macht zu kontrollieren. Kleine und mittlere Unternehmen sind von diesem Konzentrationsprozess ständig bedroht.
  3. Die Gerechtigkeit und Solidarität in Europa sind in Gefahr.
    Die zunehmende Ungerechtigkeit bei der Verteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen sowie der Teilhabe an sozialen Leistungen der Nationalstaaten und an wirtschaftlicher Machtausübung verletzt das Prinzip gleicher Lebensverhältnisse für alle. Ihre Grenzen verlaufen dabei nicht nur zwischen den Nationalstaaten, sondern auch mitten durch sie hindurch. Sie sind nationale und europäische Klassengrenzen.
    Der Ungleichheit der Bürger in der Gemeinschaft entspricht die ungerechte, weil unterschiedliche Entwicklung der einzelnen Regionen der EG, die sich bisher mehr an den Gewinnerwartungen für eingesetztes Kapital als an der Gleichheit der Lebenschancen für die Menschen etwa im Ruhrgebiet und auf Sizilien orientiert hat.
    Wo keine Gerechtigkeit herrscht, ist auch Solidarität nicht verwirklicht: Solidarität in sozialen Gruppen, zwischen den Staaten und Regionen der Gemeinschaft.
    An Solidarität mangelt es vor allem auch im Verhältnis der vergleichsweise reichen EG-Staaten zu den ärmeren Ländern der Welt. Der Reichtum der Welt ist in unerträglicher Weise ungerecht und ungleich verteilt. Das ist die Quelle des ständig sich verschärfenden Nord-Süd-Konflikts und zunehmender Friedensgefährdung. Für diese und für die nächste Generation wird die Suche nach einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung zu einer Überlebensfrage für Viele Völker. Europa und vor allem die Staaten der EG können es sich nicht länger leisten, keine Opfer zu bringen und weiter auf einer isolierten Insel des Wohlstandes zu sitzen, umgeben von Hunger, Armut und Krankheit.
  4. Das Recht auf Arbeit und Ausbildung ist in Europa in Gefahr.
    Die Mit- und Selbstbestimmung der Arbeitnehmer und ihrer Organisationen über Arbeitsbedingungen und Arbeitsmärkte, über Investitionen und Produkte sowie über die Verwendung und Verteilung des erarbeiteten wirtschaftlichen Reichtums fehlen in Europa oder sind allenfalls in Ansätzen in einigen Ländern der Gemeinschaft verwirklicht. Damit fehlt eine wichtige Voraussetzung für die Verwirklichung des Grundwertes Arbeit in der EG.
    Der wachsende Fehlbedarf an Arbeitsplätzen kennzeichnet die zweite fehlende Voraussetzung für die Verwirklichung des Grundwertes Arbeit. Es wird unter den gegebenen Strukturen auf Dauer nicht so viele Arbeitsplätze wie Arbeitssuchende in der Europäischen Gemeinschaft geben. Das Ausmaß der Krise wird unter anderem bedingt durch
    • eine unkontrollierte Wachstumspolitik, die begrenzte Rohstoff- und Energievorräte verschwendet, den Kreislauf der Natur zerstört und schneller Probleme erzeugt, als Mittel und Möglichkeiten zu ihrer Beseitigung entwickelt werden können;
    • die unkontrollierte Anwendung technologischer Entwicklung und der sich daraus ergebenden Rationalisierung;
    • die zunehmende Macht der multinationalen Konzerne, die zu Überproduktions- und Investitionskrisen führt;
    • die einseitige Orientierung der Planung und Lenkung von Investitionen am privaten Gewinn, bei der die Gleichung "mehr Gewinne = mehr Investitionen = mehr Arbeitsplätze" nicht stimmt;
    • die Verteilungskämpfe zwischen Ländern und armen und reichen Entwicklungsländern.

Konsequenzen für eine Europapolitik der SPD

Durchsetzung einer Politik des demokratischen Sozialismus