S1: "Wohlstand für alle!" - Soziale Ungleichheit konkret bekämpfen (2015): Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 15. Februar 2016, 10:42 Uhr

Gremium: Landesparteitag
Sitzung: Landesparteitag Neumünster 2015
Bezeichnung: S1
Antragsteller: Jusos Schleswig-Holstein‏‎


Beschluss: Überwiesen an Landesvorstand

An den Anfang gestellt wird ein Grundsatz des ehemaligen Wirtschaftsministers Ludwig Erhard, aus dem 1957 erschienenen Buch “Wohlstand für alle”, das auch für heutiges politisches Handeln von großer Relevanz sein muss: “Ich strebe eine Wirtschaftsverfassung an, die immer weitere und breitere Schichten unseres Volkes zu Wohlstand zu führen vermag. Am Ausgangspunkt stand da der Wunsch, über eine breitgeschichtete Massenkaufkraft, die alte konservative soziale Struktur endgültig zu überwinden. Diese überkommene Hierarchie war auf der einen Seite durch eine dünne Oberschichte, welche sich jeden Konsum leisten konnte, wie anderseits durch eine quantitativ sehr breite Unterschicht mit unzureichender Kaufkraft gekennzeichnet. Die Neugestaltung unserer Wirtschaftsordnung musste also die Voraussetzung dafür schaffen, dass dieser einer fortschrittlichen Entwicklung entgegenstehender Zustand und damit zugleich endlich das Ressentiment zwischen ‘arm’ und ‘reich’ überwunden werden konnten.”

Erhard hat damit die Politik der sozialen Marktwirtschaft geprägt, die für die frühe Bundesrepublik zum konstituierenden Element geworden ist und bis in die 1970er Jahre eine nie gekannte prosperierende, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung ermöglicht hat. Begleiterscheinungen waren die Bildungsexpansion, ein progressives System von Steuern und Abgaben sowie ein umfassend vorsorgender Sozialstaat. In ihrem Zusammenwirken haben diese Elemente Wohlstand für alle Menschen sichergestellt. In den Jahrzehnten danach ist diese Perspektive mehr und mehr aus dem Blick geraten. Stück für Stück wurde der Sozialstaat beschnitten und so die Grundlage für flächendeckende soziale Ungleichheit geschaffen. Zwar erleben wir auch aktuell eine dynamische ökonomische Entwicklung, doch der wachsende Wohlstand kommt längst nicht bei allen Menschen an.

Notwendig ist deshalb eine Renaissance der sozialen Marktwirtschaft. Dazu werden im Folgenden die relevanten Handlungsfelder aufgezeigt, um darauf aufbauend konkrete Reformschritte vorzuschlagen.

Soziale Ungleichheit und politische Partizipation

Seit ihrer Gründung war es für die SPD zentrale Handlungsmaxime, für die wirtschaftlich schwächeren Teile der Bevölkerung Türöffner für politische Beteiligung zu sein. Verschiedene Entwicklungen gefährden jedoch diesen Teil des sozialdemokratischen Selbstverständnisses.

Die Wahlbeteiligung in Deutschland ist spätestens seit den 1990er Jahren rückläufig. Besonders drastisch tritt dies bei Kommunal- und Landtagswahlen zu Tage. Aber auch die relative und im internationalen Vergleich gemessen recht hohe Wahlbeteiligung zu Bundestagswahlen kann nicht verschleiern, dass in Deutschland ein starker Zusammenhang zwischen sozio-ökonomischer Status[1] und Wahlbeteiligung besteht. Dort, wo es den Menschen wirtschaftlich schlecht geht, bleiben auch die Wahlurnen leer. Diese Abhängigkeit von der sozialen Situation lässt sich auch für andere Formen der politischen Beteiligung wie Volksentscheide, Bürgerbegehren, aber auch die Mitgliedschaft in Parteien feststellen.

Wenn der sozio-ökonomische Status politische Partizipation bedingt, muss nach den möglichen Folgen gefragt werden. Wie kann eine Berücksichtigung der Interessen von wirtschaftlich schwächeren Menschen gelingen, wenn die Wahlbeteiligung in wirtschaftlich starken Wahlkreisen und Stadtteilen über einen längeren Zeitraum erheblich höher ist als in wirtschaftlich schwächeren? Was macht es mit einer Demokratie, wenn wie im Beispiel des Hamburger Volksentscheides zur Schulreform 2010 vor allem privilegierte und finanzstarke Bevölkerungsteile die Möglichkeiten der direkten Demokratie für sich nutzen können? Und wie kann es der SPD, als zunehmend akademisch geprägter Partei der Mittelschicht gelingen, die Bekämpfung sozialer Ungleichheit als ursprünglichen Kerninhalt ihrer Politik nicht aus den Augen zu verlieren? Diese Fragen sind konkret und dennoch grundsätzlicher Natur. Eine soziale Demokratie kann es nicht tolerieren, wenn sich wirtschaftlich schwache Bevölkerungsteile aus dem demokratischen Prozess ganz oder teilweise zurückziehen.

Für die SPD sind die Fragen nach sozialer Ungleichheit, Glaubwürdigkeit und politischer Partizipation elementar. Wir setzten diesen gesellschaftlichen Herausforderungen unsere Werte Gerechtigkeit und Solidarität entgegen. Darüber hinaus ist diese Problemlage auch von strategischer Bedeutung. Bei der Bundestagswahl 1998 gelang es der SPD 20 Millionen Stimmen auf sich zu vereinen. 2009 hatte sie zehn Millionen dieser Wähler_innen verloren und auch bei der Wahl 2013 fehlten im Vergleich zu 1998 neun Millionen dieser Stimmen. Verantwortlich für diesen Effekt sind verschiedene Entwicklungen, eine zentrale Erklärung ist aber die gesunkene Wahlbeteiligung.

Ergebnis und politische Folge dieser Entwicklung sind die beiden Großen Koalitionen nach 2005. Um wieder politische Machtperspektiven aus eigener Kraft heraus zu erlangen, muss die SPD daher Glaubwürdigkeit in dem für sie zentralen Politikfeld der Bekämpfung sozialer Ungleichheit erreichen. Die Demoskopie macht das ganz deutlich. Über 50 Prozent der Menschen, die 2013 zur Wahl gegangen sind, würden niemals SPD wählen. Von denjenigen, die Zuhause geblieben sind, würden 50 Prozent, wenn sie zur Wahl gingen, nur die SPD wählen. Wie die SPD wieder Wahlen gewinnt, ist vor diesem Hintergrund eindeutig:

Es gilt, dass die Sozialdemokratie für ihre Politik keine Mehrheit erringen wird, ohne die Beteiligung der Menschen, für die sie Politik macht. Nur wenn der Teil der Bevölkerung, der sich aus dem politischen Prozess in den vergangenen Jahren verabschiedet hat, in der SPD wieder den Türöffner für die eigene Beteiligung sieht, kann dies gelingen.

Eine Analyse der Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt und in der sozialen Sicherung Die zentralen Herausforderungen für unser System sozialer Sicherung und die Gestaltung der Arbeitswelt der Zukunft sind der demographische Wandel, die technische Entwicklung und die Globalisierung der Weltmärkte. Diese tiefgreifenden und umfassenden Veränderungen bringen es mit sich, dass wir tradierte Konzepte und Ordnungen fundamental hinterfragen müssen. Zudem haben sich Lebenswege und Arbeitssituation weitreichend verändert, weshalb vorhandene Systeme nicht auf alle Problemlagen eine Antwort finden können. Maxime unserer Politik muss die Gewährleistung der Finanzierbarkeit des Systems und der Erhalt sowie Ausbau des derzeitigen Schutzniveaus sein.

Aber auch aus der Perspektive sozialer Ungleichheit sind Veränderungen unerlässlich. Unser aktuelles System der Sozialversicherung führt zu eine Verschärfung von Ungleichheit. Dies ist einerseits bedingt durch die Beitragsbemessungsgrenze[2], anderseits durch die Praxis, dass Einzahlende mit geringem Einkommen einen Rentenanspruch erwerben, der unter dem Niveau der Grundsicherung im Alter liegt. Gleichzeitig sind erhebliche Teile der Bevölkerung nicht Teil eines gemeinsamen Systems sozialer Sicherung. Dazu gehören beispielsweise Beamte oder Selbstständige. Dies befördert die Erosion des Systems. Die lange Phase der Stagnation der Reallöhne hat die Einnahmebasis der Sozialversicherung beschnitten. Insgesamt ist die aktuelle Perspektive der Sozialversicherung mittel- und langfristig negativ.

Auf dem Arbeitsmarkt öffnet sich in den letzten zehn Jahren eine immer größer werdende Schere zwischen gut bezahlten Fachkräften und Menschen in prekärer Beschäftigung, die teilweise auf mehrere Jobs und ergänzende Transferleistungen angewiesen sind, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Trotz der positiven Beschäftigungsentwicklung, sinkt die Zahl der Langzeitarbeitslosen kaum. Die benachteiligten Gruppen der letzten zehn Jahre haben auch heute große Probleme, in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen. Insbesondere folgende Risikogruppen bedürfen einer speziellen Förderung: Alleinerziehende, Geringqualifizierte, Langzeitarbeitslose, Menschen mit Migrationsgeschichte und Menschen mit Beeinträchtigung.

Daraus leiten sich folgende Kernfragen ab: Wie schaffen wir Erwerbsbeteiligung für alle Menschen und bekämpfen die Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt? Wie können wir unser System sozialer Sicherung gerechter und zukunftsfest machen und wie bleibt es bezahlbar?

Forderungen zu Reformen des Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherung

Im Godesberger Programm der Sozialdemokratie von 1959 heißt es: “Sozialpolitik hat wesentliche Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß sich der einzelne in der Gesellschaft frei entfalten und sein Leben in eigener Verantwortung gestalten kann. [...] Das System sozialer Sicherung muß der Würde selbstverantwortlicher Menschen entsprechen.” Dies muss die oberste Maxime unserer Sozialpolitik bleiben. Heute dominieren Kosteneffizienz auf der einen und Stigmatisierung auf der anderen Seite den Diskurs über Leistungsempfänger*innen. Wir aber wollen ein System, das allen die Chancen zum sozialen Aufstieg gibt – Ein Sprungbrett und kein Auffangnetz. Zu diesem Verständnis gehört auch das Bewusstsein darüber, dass Arbeitslosigkeit kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem ist. Zeiten von Erwerbslosigkeit sind kein Stigma, sondern natürlicher Teil eines Lebens- und Berufswegs. Aus diesen Überlegungen leiten sich drei Entwicklungsstufen unseres Sozialsystems ab.

Stufe 1: Gute Löhne und gerechte Abgaben

Für die Stärke der sozialen Sicherung ist eine stabile Lohnentwicklung Voraussetzung. Produktionsfortschritte und Gewinne müssen auch an die Beschäftigten weitergegeben werden. Die Stagnation der Reallöhne Anfang des Jahrtausends war eine unzumutbare Belastung für unser System sozialer Sicherung. Künftig müssen starke Gewerkschaften und selbstbewusste Arbeitnehmer*innen verantwortungsbewusst dafür sorgen, dass sich diese Zustände nicht wiederholen. Mit dem Mindestlohn hat die SPD einen ersten wichtigen Schritt unternommen und eine wirksame Grenze eingeführt, die ein Mindestmaß an Sicherheit gewährleistet. Nun müssen weiterhin gute Tarifabschlüsse erzielt werden, damit die Beschäftigten ebenfalls von der positiven ökonomischen Entwicklung profitieren.

Zugleich bedarf es einer deutlichen Anhebung der Beitragsbemessungsgrenzen für alle Versicherungsarten. Die Beitragsbemessungsgrenzen sind der Hauptgrund dafür, dass von der Sozialversicherung eine negative Verteilungswirkung ausgeht, da insbesondere mittlere Einkommen überproportional für die Finanzierung der Sicherungssysteme herangezogen werden. Zeitnah muss dann die gänzliche Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze geprüft werden, um eine verfassungskonforme Lösung zu finden.

Stufe 2: Die erweiterte Bürgerversicherung

Wir stärken die Sozialversicherung, indem wir mehr Gruppen einbinden. Dazu gehören die Selbstständigen und Beamten. Dies bedeutet keine Abschaffung des Beamtenstatus. Und natürlich müssen, verbunden mit der gestiegenen Abgabenlast, Gehälter im öffentlichen Dienst wieder wesentlich stärker steigen, um diese kurzfristige Schlechterstellung zu kompensieren. Mit der Ausdehnung des Kreises der Versicherten geht auch die Abschaffung der berufsständischen Versorgungswerke einher. Wir wollen ein System, das seine Stärke daraus zieht, dass alle Menschen einzahlen und Leistungen erhalten.

Ferner wollen wir eine schrittweiseAbsenkung der Arbeitnehmerbeiträge für die Renten- und Krankversicherung. Dies schafft effektive Entlastungen für Beschäftigte mit geringem Einkommen. Das Defizit in der Sozialversicherung wird durch einen wachsenden Steuerzuschuss ausgeglichen, der durch steuerrechtliche Reformen gegenfinanziert wird.

Stufe 3: Langfristiger Umstieg auf Steuerfinanzierung des Sozialsystems

Langfristig wollen wir ein steuerfinanziertes Sozialsystem. So können wir die negativen Verteilungseffekte der Sozialversicherung gänzlich ausschließen, Die Finanzierung dieser Maßnahme stellt eine gewaltige Herausforderung für den Sozialstaat dar und bedeutet eine komplette Neuordnung des Steuersystems, weshalb dies ausschließlich ein Fernziel sein kann.

Neben den Veränderungen unseres Sozialsystems wollen wir einen Arbeitsmarkt, der gute Arbeit schafft von der man leben kann. Dazu sind zwei zentrale Reformschritte notwendig:

Schritt 1: Reregulierung von Arbeit und Verbesserung des Arbeitsmarkzugangs

Arbeit ist und bleibt für uns das zentrale Element gesellschaftlicher Teilhabe und sozialen Wohlstands. Deshalb liegt in diesem Politikfeld ganz besonders die Verpflichtung sozialdemokratischer Politik. In den Koalitionsverhandlungen konnte die SPD für die Große Koalition bereits viele wichtige Maßnahmen in diesem Bereich verankern. Hier gilt es anzuknüpfen.

Wir wollen, dass das Normalarbeitsverhältnis wieder der Normalzustand wird. Dazu fordern wir eine Neuordnung von geringfügiger Beschäftigung. Eine adäquate Lösung sehen wir dafür im DGB-Modell[3]. Arbeitgeber*innen sind verpflichtet, den vollen Anteil an Sozialbeiträgen ab dem ersten verdienten Euro zu zahlen. Der Arbeitnehmer*innenanteil wächst an, bis er ab einer Einkommensgrenze den vollen Satz erreicht. Dies bedeutet eine faktische Abschaffung der Minijobs. Die Ausnahmeregelungen für Studierende, Renter*innen, Pensionär*innen werden beibehalten. Für Schüler*innen unter 18 Jahren wird eine Taschengeldgrenze eingeführt. In diesen Fällen wächst der Betrag der Arbeitnehmer*innen nicht an.

Gleichzeitig gilt es Rahmenbedingungen für einen einfachen Arbeitsmarktzugang zu schaffen. Wir wollen nicht nur eine flächendeckende und verlässliche Kinderbetreuung, sondern sie muss aus unserer Sicht zusätzlich beitragsfrei und qualitativ hochwertig sein. Wir verstehen Kinderbetreuung als Teil des Bildungsweges. Die Beitragsfreiheit baut Zugangsbarrieren ab. Damit ermöglichen wir Eltern, insbesondere alleinerziehenden Müttern und Vätern, einen besseren Wiedereinstieg in den Beruf und entlasten gleichzeitig junge Familien finanziell so stark, wie kaum eine andere Maßnahme.

Das Ehegattensplitting begünstigt die Einverdienerehe und benachteiligt insbesondere Menschen mit geringem Einkommen. Schon 1998 hat das Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen, dass das Ehegattensplitting nicht als Familienförderung zu rechtfertigen ist. Durch die Abschaffung steigern wir die Erwerbsbeteiligung von Frauen und erhöhen ihre finanzielle Unabhängigkeit.

Mittels einer Förderung von gesundheitsverträglichen Arbeitsplätzen und arbeitserleichternden Hilfsmitteln ermöglichen wir sowohl Menschen mit Beeinträchtigung oder Assistenzbedarf, aber auch älteren Arbeitnehmer*innen den nachhaltigen und langfristigen Verbleib auf dem Arbeitsmarkt. Zudem wird eine Erhöhung der Schwerbehindertenabgabe für Unternehmen, die ihre vorgeschriebenen Beschäftigungsquoten von Menschen mit Behinderungen nicht einhalten, zu einem akuten Handlungsdruck führen, entsprechende Arbeitsplätze zu schaffen, statt sich von dieser Verpflichtung ‘frei zu kaufen’.

Schritt 2: Entwicklung der Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung.

Statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren, brauchen wir eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die den wirtschaftlichen Strukturwandel gestaltet und Phasen der Arbeitslosigkeit nicht als verlorene Zeit, sondern als Chance zur Weiterqualifikation versteht. Die sinkende Zahl der Arbeitslosen ermöglicht uns endlich eine gezieltere und bessere Einzelbetreuung der Härtefälle und Langzeitarbeitslosen. Die Reaktion auf die günstige Entwicklung am Arbeitsmarkt kann deshalb keinesfalls sein, dass Investitionen in aktive Arbeitsmarktpolitik, wie durch die schwarz-gelbe Bundesregierung bis 2013 geschehen, zurückgefahren werden.

Wir unterstützen in diesem Sinne die grundsätzlichen Reformüberlegungen des Juso-Bundesverbands bei der Neuordnung der Arbeitslosenversicherung hin zu einer Arbeitsversicherung, die sowohl Zeiten von Erwerbslosigkeit absichert, als auch weitreichende Chancen zur Weiterbildung eröffnet. Erleichtert werden dadurch außerdem die persönliche Lebensplanung oder kurzfristige Umstellungen beim Umfang von Erwerbstätigkeit[4].

Der demografische Wandel sorgt schon heute dafür, dass Stellen nicht mehr besetzt werden können. Zukünftig wird es immer mehr darum gehen, das Erwerbspotenzial voll auszureizen. Aktive Arbeitsmarktpolitik mag kurzfristig teurer erscheinen, doch langfristig zahlt sie sich aus, weil sie Menschen in Arbeit bringt und das Problem des Fachkräftemangels aktiv bekämpft. Dabei sollen die örtlichen Jobcenter eine größere Handlungsfreiheit erhalten, um die Verzahnung mit regionaler Strukturpolitik zu ermöglichen und speziell auf die Gegebenheiten zugeschnittene Angebote zu schaffen.

Folgerichtig müssen die Betreuungsquoten der Fallmanager*innen in den Jobcentern deutlich reduziert werden, um verwaltungsseitig ausreichend Kapazitäten für eine adäquate Einzelfallbearbeitung bereitzustellen.

Heute ist nicht mehr in allen Branchen der Mangel an Ausbildungsplätzen das zentrale Problem. Viele Betriebe wollen ausbilden, aber sind mit der Qualität der Bewerberinnen und Bewerber nicht zufrieden. Daher gilt: Kein Mensch ohne Schulabschluss! Statt Jugendliche in Maßnahmen zu parken, muss jede Chance ergriffen werden, ihnen eine hochwertige Schulbildung zu ermöglichen und sie so fit für den Ausbildungsmarkt zu machen. Vorerst müssen sich Betriebe daran gewöhnen, dass nicht nur optimale Bewerber*innen genommen werden können. Berufsschulen müssen gemeinsam mit den ausbildenden Betrieben Strategien entwickeln, um dieser Problematik zu begegnen.

Mittelfristig muss das Bildungssystem sich auf die neuen Bedingungen einstellen, zusätzliche Investitionen ermöglichen bei sinkenden Schüler*innenzahlen eine optimale Betreuung und Ausbildung. Unternehmen, die ihren Bedarf an Fachkräften mittel- und langfristig sichern wollen, müssen zudem begreifen, dass sie nur durch die Verbesserung von Arbeits- und Ausbildungsbedingungen Chancen auf qualifiziertes und motiviertes Personal haben. Diejenigen, die diese Anstrengungen vermeiden, sind Trittbrettfahrer auf dem Weg in die Zukunft. Grundsatz unserer Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik ist und bleibt: Niemanden zurücklassen. Das ist nicht nur sozial gerecht, sondern auch ökonomisch vernünftig.

Analyse der Einkommens- und Vermögensungleichheit in Deutschland

Im Godesberger Programm der Sozialdemokratie von 1959 heißt es: “Die Marktwirtschaft gewährleistet von sich aus keine gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung. Dazu bedarf es einer zielbewußten Einkommens- und Vermögenspolitik.” Diese zielbewusste Verteilungspolitik ist in den letzten Jahrzehnten aus dem Blick geraten und bedarf einer Aktualisierung. Auch um den sozialen Frieden in Deutschland zu erhalten. Die Grundlage von Vermögensbildung ist das Einkommen. Unter Einkommen verstehen wir alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert, die einer Person innerhalb einer bestimmten Zeit erhält. Diese Einnahmen können aus Arbeitsleistung, Vermögensanlagen, Transferleistungen sowie unternehmerischer Tätigkeit entstammen. In Deutschland beobachten wir, dass sich hohe und niedrige Einkommen auseinanderentwickeln. So ist der Gini-Koeffizient[5], der das populärste Maß für die Messung der Einkommensungleichheit darstellt, bezogen auf das Nettoäquivalenzeinkommen[6] von 2000 bis 2014 von 0,25 auf 0,29 gestiegen. Dennoch ist Deutschland im OECD Vergleich weiterhin eines der Länder mit einer relativ egalitären Einkommensverteilung. Die beobachtbare Veränderung kommt insbesondere durch Steigerung der extrem hohen Einkommen zustande. Inflationsbereinigt sind die Top-Gehälter im letzten Jahrzehnt um bis zu 10 Prozent pro Jahr gestiegen, während die mittleren realen Einkommen lange Zeit stagnierten oder sogar zurückgegangen sind. Trotzdem gilt, dass die Ungleichheit der Gehälter nicht das vordringlichste Problem darstellt. Viel wichtiger ist die extreme Ungleichheit bei den Vermögen. Konkret betrachten wir hier die Reinvermögen, welche als Summe der einer Person zugeordneten Geldwerten Güter, Rechte und Forderungen mit Abzug der Schulden und Verpflichtungen definiert sind.

Dazu lohnt zunächst eine globalere Betrachtung der Problematik. Im 21. Jahrhundert erleben wir in Bezug auf das Vermögen eine Renaissance des Prinzips der unbegrenzten Akkumulation. Weil das Wachstum von Bevölkerung und Produktivität relativ schwach ist und die durchschnittliche Kapitalrendite über dem Anstieg der Löhne liegt, erlangen die in der Vergangenheit angehäuften Vermögen eine überdimensionale Bedeutung. Hinzu kommt, dass der demografische Wandel zu einer Generation der Erben und der damit automatisch einhergehenden Konzentration von Kapital führt. Immer mehr ältere Menschen vererben immer mehr Kapital an immer weniger Kinder und Enkel. Leer gehen dabei diejenigen aus, deren Eltern kein Vermögen anhäufen konnten.

Es lässt sich also festhalten: Wenn die durchschnittliche Kapitalrendite dauerhaft über der Wachstumsrate liegt (was wir heute in allen Industriestaaten beobachten können), wird die Ungleichheit der Vermögen extrem steigen. Dies höhlt das fundamentale Prinzip der Leistungsgerechtigkeit in dramatischer Weise aus, weil die im Laufe des Arbeitslebens erworbenen Vermögenswerte in keinem Verhältnis zu den ererbten Vermögen stehen. Für uns gilt aber, dass nicht die Herkunft, sondern das eigene Talent und Engagement über den Lebensweg entscheiden muss. Aus dieser fundamentalen Erkenntnis leiten wir die Relevanz der Erbschaftsteuer ab. Mit einem Aufkommen von 4,2 Mrd. Euro im Jahr 2013 trägt sie weniger zum Staatshaushalt bei als die Tabaksteuer. Und das, obwohl allein im Jahr 2013 insgesamt 254 Mrd. Euro vererbt wurden. Dies ergibt eine reale Steuerbelastung von 1,7 Prozent.

Diese Entwicklungen führen in der Konsequenz dazu, dass Deutschland die größte Vermögensungleichheit in der Eurozone aufweist. Konkret bedeutet dies, dass heute die reichsten 10 Prozent der deutschen Bevölkerung über 63 Prozent des Vermögens verfügen.

Das reichste Prozent vereint 25 Prozent des Gesamtvermögens auf sich und der reichste Deutsche verfügt über ein geschätztes Vermögen von 20 Mrd. Euro. Demgegenüber verfügen die 60 Prozent der Deutschen mit dem geringsten Vermögen über etwa 3 Prozent des Gesamtvermögens. Der reichste Deutsche verfügt also über mehr Vermögen als 30 Prozent der restlichen Bevölkerung. Hinzu kommt, dass nur wenig über die Höhe deutscher Vermögen bekannt ist, weil sie seit Abschaffung der Vermögenssteuer nicht systematisch erhoben werden. Es ist davon auszugehen, dass die tatsächliche Ungleichheit noch größer ist.

Ein weiterer zentraler Motor für Ungleichheit ist die Schwächung der Finanzkraft der öffentlichen Hand, die in den letzten Jahrzehnten beobachtet werden kann. Mit knapp 20 Prozent hat Deutschland eine der geringsten Steuerquoten[7] aller OECD Staaten. Nur die Schweiz und die Vereinigten Staaten weisen noch geringere Werte auf. Dabei führen wir als Sozialdemokratie die Debatte um Staatsverschuldung mit dem falschen Fokus. Folgendes müssen wir klar machen: Jeder Euro der Schuldenlast des Staates stellt einen Euro des Vermögens eines Menschen dar. Während sich also der Staat in dramatischer Weise verschuldet hat, sind die privaten Vermögen im selben Maße gestiegen. Die darauf zu zahlenden Zinsen kommen wiederum den Vermögenden zugute. Betrachtet man diesen Mechanismus, steigert eine hohe Staatsverschuldung also die soziale Ungleichheit, weil sie eine Verteilung von unten nach oben bedeutet. Auch deshalb wollen wir den Kurs der Konsolidierung der Staatsschulden fortsetzen. Allerdings nicht durch Kürzungen im sozialen Bereich oder bei den dringend benötigenden Investitionen, sondern durch eine Verbesserung der Einnahmeseite. Wir müssen selbstbewusst vertreten, dass Deutschland ein Einnahme- und kein Ausgabeproblem hat. Darüber dürfen auch nicht die durchsichtigen Diskussionen über staatliche Misswirtschaft hinwegtäuschen. Selbstverständlich stehen wir für einen kosteneffizienten und verantwortungsvollen Umgang mit öffentlichen Mitteln.

Dies ändert aber nichts am andauernden strukturellen Einnahmedefizit, das einen Investitionsstau erzeugt, der unsere Volkswirtschaft schwächt und soziale Ungleichheit bestärkt.

Hinzu kommt, dass eine tendenziell gleichere Verteilung von Einkommen- und Vermögen auch ein höheres Wirtschaftswachstum bedingt, da Menschen mit niedrigerem Einkommen und Vermögen eine wesentlich geringere Sparquote haben und somit mehr für Konsum aufwenden. Dies hält mehr Kapital im System und schafft deshalb neue Arbeit, höhere Einkommen, größere Staatseinnahmen und wiederum mehr Konsum, was weitere Multiplikatoreffekte auslöst.

Forderung zur Begrenzung der Einkommens- und Vermögensungleichheit

Die Analyse hat deutlich gemacht, dass die Einkommensverteilung das kleinere Problem darstellt. Vielmehr muss eine Politik, die aktiv soziale Ungleichheit bekämpfen will, insbesondere an der Seite der Vermögenssubstanz und Kapitalakkumulation ansetzen.

Dennoch bleiben viele Forderungen aus dem Regierungsprogramm der SPD von 2013 richtig und wichtig, weshalb sie hier leicht modifiziert ebenfalls Berücksichtigung finden. Der Spitzensteuersatz für Einkommen über 120.000 Euro wird auf 49 Prozent erhöht. Der Grundfreibetrag wird auf 12.000 Euro erhöht. So werden niedrige Einkommen entlastet und die kalte Progression wirksam bekämpft. Wenn die geplanten Änderungen im Sozialsystem umgesetzt werden muss die Einkommenssteuer entsprechend angepasst werden. Der Spitzensteuersatz steigt dann schrittweise auf 53 Prozent. Das bereits weiter oben erwähnte Ehegattensplitting wird abgeschafft und in eine Individualbesteuerung überführt. Dabei ist durch Kompensation sicher zu stellen, dass Familien mit niedrigem und mittlerem Einkommen nicht schlechter gestellt werden. Einkommen aus Kapitalerträgen werden wieder mit dem individuellen Einkommenssteuersatz besteuert.

Erbschaften werden hier als Kapitalzufluss und somit als Einkommen betrachtet und deshalb mit dem individuellen Einkommenssteuersatz besteuert. Dabei gilt pro Person ein lebenslanger einmaliger Freibetrag von einer Million Euro, der genauso für Schenkungen Anwendungen findet. Des Weiteren wird eine Vermögenssteuer mit einem Steuersatz von 0,5 Prozent erhoben mit einem Freibetrag von ebenfalls einer Million Euro. Uns ist bewusst, dass es sich bei der Vermögenssteuer um eine doppelte Besteuerung handelt, auch erkennen wir die Schwierigkeit der Messung von Vermögen an und sehen die Möglichkeit der verstärkten Kapitalflucht. Das zentrale Argument für eine Vermögenssteuer bleibt davon aber unberührt: Eigentum verpflichtet und die zunehme Ungleichheit kann nur auf diese Weise wirksam bekämpft werden. Gleichzeitig kann eine gerechte Vermögensverteilung nur gewährleistet werden, wenn wir gesicherte Erkenntnisse über die Vermögensverteilung besitzen. Dafür ist die Erfassung in Form einer Vermögenssteuer unerlässlich.

Häufigstes Argument gegen die Einführung einer gerechten Erbschafts- und Vermögenssteuer ist die dadurch befürchtete Belastung des deutschen Mittelstandes und der damit verbundene Verlust an Arbeitsplätzen. Diese Wirkung wird häufig überschätzt, muss man doch davon ausgehen, dass ein rational agierendes Unternehmen auch vor der Einführung einer solchen Steuer die optimale Zahl an Arbeitskräften für die eigene Gewinnmaximierung beschäftigt. Sofern die Steuer nicht sofort geleistet werden kann, wird eine Stundung der Steuer mit Sicherheitsleistung (Nießbrauchsrecht bei Unternehmen, Grundbucheintragung bei Grundstücken und Schiffen) möglich sein. Die Erträge aus dem vererbten Vermögen müssen zuerst dem Staat gezahlt werden bis die Steuerschuld getilgt ist. Geerbtes Barvermögen muss sofort zur Tilgung der Steuerschuld eingesetzt werden. Mit dem Staat als stillem Teilhaber hat die SPD zudem ein kreatives und vielversprechendes Modell vorgelegt, welches weiter verfolgt werden sollte.

Einhergehen müssen diese Maßnahmen mit einer besseren personellen und technischen Ausstattung der Steuerverwaltung, welche die Steuerehrlichkeit sicherstellen soll. Hinzu kommt die Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuerbetrug jenseits einer Bagatellegrenze von 10.000 Euro. Banken, denen in zehn konkreten Fällen Steuervermeidungspraktiken nachgewiesen werden können, wird die Banklizenz entzogen.

Unternehmen haben in den letzten Jahren große steuerliche Erleichterungen erfahren. Zuletzt war das durch die Reform der Großen Koalition 2008 der Fall. Gleichzeitig wurden seit diesem Zeitraum beträchtliche Gewinne generiert. Dies ist Grund genug, Unternehmen wieder stärker für die Finanzierung des Gemeinwohls in die Verantwortung zu nehmen.

Schließlich finanziert der Staat die öffentliche Infrastruktur, welche wiederum Basis des ökonomischen Erfolgs der in Deutschland tätigen Unternehmen ist. Die Mehrbelastung kann über eine Ausweitung der Bemessungsgrundlage oder einer Anhebung der nominalen Steuersätze erfolgen. Die steuerliche Absetzbarkeit von Gehältern und Boni ab der Grenze von 500.000 Euro im Jahr wird abgeschafft.

Langfristig kann die Frage der gerechten und lückenlosen Unternehmensbesteuerung nur auf europäischer Ebene gelöst werden. Ein erster und wichtiger Schritt dazu wäre ein europäisches Mindeststeuerabkommen, das Steuersätze und Bemessungsgrundlagen allgemeinverbindlich regelt. Grundsatz unserer Politik bleibt: Gewinne sollen dort versteuert werden, wo sie auch erwirtschaftet werden. Die europaweite Umsetzung einer Finanztransaktionsteuer mit breiter Bemessungsgrundlage und geringem Steuersatz ist und bleibt eine unserer Kernforderungen. Hier muss die Bundesregierung noch größeren Einsatz zur Überwindung des Widerstands anderer europäischer Staaten zeigen.

Gemeinsam leisten die Forderungen im Bereich des Sozialsystem und des Arbeitsmarkts sowie im Bereich der Einkommens- und Vermögensungleichheit einen wirksamen Beitrag zur Bekämpfung sozialer Ungleichheit. Ihre Umsetzung würde die Glaubwürdigkeit der Sozialdemokratie wiederherstellen und unser Zentrales Versprechen auf Wohlstand für alle Menschen verwirklichen.