S9: Die Sozialdemokratie vor großen Herausforderungen etc. (2003)

Aus Beschlussdatenbank der SPD Schleswig-Holstein
Version vom 26. Juni 2013, 15:38 Uhr von Julia (Diskussion | Beiträge) (Die Seite wurde neu angelegt: „{{Beschluss |Gremium =Landesparteitag |Gliederung =Landesverband Schleswig-Holstein |Sitzung =Landesparteitag Kiel 2003 |Leitantrag = |Nr …“)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Gremium: Landesparteitag
Sitzung: Landesparteitag Kiel 2003
Bezeichnung: S9
Antragsteller: Jusos Schleswig-Holstein


Beschluss: Überwiesen an Landesvorstand

Die Arbeitswelt neu gestalten

Die Arbeitswelt befindet sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einem rasanten Wandel. Wir stehen am Übergang von der Industriegesellschaft zur wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft.

Die Veränderungen sind von grundlegender Natur, sie betreffen weit mehr als die reine Erwerbsarbeit, sie berühren fast alle gesellschaftlichen Bereiche. Dies gilt für das Bildungswesen, die soziale und gesellschaftliche Teilhabe und die sozialen Sicherungssysteme.

Am Ziel der Vollbeschäftigung halten wir fest. Allerdings muss Vollbeschäftigung heute anders definiert werden als in den Nachkriegsjahren. Vollbeschäftigung kann nicht mehr bedeuten, dass möglichst alle Männer 40 Stunden in der Woche arbeiten und Frauen die Reproduktionsarbeit übernehmen und bestenfalls zusätzlich arbeiten gehen. Männer und Frauen müssen Erwerbs- und Familienarbeit gleichberechtigt leisten und miteinander aufteilen. Vollbeschäftigung bedeutet heute, dass allen Menschen die eine Arbeit suchen, auch die Möglichkeit für ein adäquates Beschäftigungsverhältnis gegenübersteht. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist noch immer eine vorrangige Aufgabe. Die Ausweitung des Arbeitsvolumens durch wirtschaftliches Wachstum, die gerechtere Verteilung der vorhanden Arbeit, die Flexibilisierung der Arbeitszeiten, die Dynamisierung des Arbeitsmarktes sowie der Einsatz von Instrumenten der aktiven Beschäftigungspolitik sind die richtigen Strategien.

Eine Gesellschaft hat gegenüber ihren Mitgliedern Verantwortung. Sie muss ihnen die Aufnahme einer angemessenen Erwerbstätigkeit ermöglichen und ihnen im Falle der Nicht-Erwerbstätigkeit oder der Erwerbsunfähigkeit Unterstützung bieten. Aber auch die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft stehen in der Verantwortung.

Die Arbeitswelt der Zukunft wird beständige Weiterbildung im Sinne des lebenslangen Lernens erfordern. Es muss den Menschen möglich sein, auch längere Perioden der Weiterbildung in ihre Erwerbsbiographie zu integrieren, ohne dass daraus Nachteile für ihre soziale Sicherung entstehen. Zeiten der Nicht-Erwerbstätigkeit müssen verstärkt zur Fortbildung genutzt werden.

Von der traditionellen Erwerbslaufbahn, wie sie die Generationen der heutigen Großeltern und unserer Eltern noch durchlaufen hat, müssen die nachwachsenden Generationen zunehmend Abstand nehmen.

Für viele Menschen stellen diese Veränderungen eine Bedrohung dar, weil sie nicht einschätzen können, was auf sie zukommt. Es ist Aufgabe von Politik, den Menschen die Chancen aufzuzeigen, die diese Entwicklungen mit sich bringen können und ihnen die Angst vor dem Ungewissen zu nehmen, indem sie ihrer Verantwortung gemäß die Bürger auch auf die Gefahren der beschriebenen Entwicklung vorbereitet. Gerade der Sozialdemokratie kommt hierbei die Verantwortung zu, diese Tendenzen zu gestalten und zu begleiten, damit an deren Ende eine Arbeitsgesellschaft steht, in der die individuelle Entfaltung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbunden wird mit Solidarität und sozialer Absicherung.

Flexibilisierung der Arbeitswelt für die Beschäftigten und für neue Arbeitsplätze nutzen

Die Verkürzung und die flexiblere Ausgestaltung von Arbeitszeiten sowie die Flexibilisierung von Arbeitsformen können der Schaffung und dem Erhalt von Arbeitsplätzen dienen. Dabei stehen für uns aber die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Vordergrund. Flexibilisierung einerseits muss verbunden werden mit sozialer, rechtlicher und tariflicher Sicherheit andererseits.

Deshalb ist in bezug auf die Flexibilisierung die individuelle Wahlfreiheit der entscheidende Parameter. Wir müssen den Menschen die Möglichkeit geben, für sich selbst zu entscheiden wie und wie viel sie arbeiten wollen. Neben Maßnahmen zur kollektiven Arbeitszeitverkürzung stehen für uns daher genauso Anreize zur individuellen Arbeitszeitverkürzung im Vordergrund. In Zukunft muss bei tariflich abgesicherten Arbeitsverhältnissen darauf geachtet werden, den individuellen Anforderungen und Ansprüchen der Menschen, speziell in bezug auf die Arbeitszeiteinteilung, entgegen zu kommen.

Anreize zur Arbeitszeitverkürzung setzen

Ziel sozialdemokratischer Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik muss es sein, neue Arbeitsplätze zu schaffen und zusätzliche Beschäftigungsfelder zu erschließen. Ebenso wichtig ist es aber, die vorhandene Arbeit gerechter zu verteilen, durch tarifliche und individuelle Arbeitszeitverkürzung einerseits und den Abbau von Überstunden andererseits. Hierzu wollen wir die Arbeitszeitordnung verbessern. Häufig fehlt in kleinen und mittleren Unternehmen die Kompetenz, flexible Arbeitszeitmodelle zu realisieren. Wir wollen die Kammern verpflichten, ihre Mitgliedsbetriebe hierbei zu unterstützen.

Aufgabe des Gesetzgebers ist es, durch rechtliche Rahmenbedingungen Anreize zur Arbeitszeitverkürzung zu setzen. Mit dem Teilzeitgesetz wurde ein erster Schritt in die richtige Richtung getan. Die Möglichkeiten sind jedoch bei weitem nicht ausgeschöpft. Daher ordern wir einen finanziellen Anreiz zur Arbeitszeitverkürzung, indem die Höhe des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung an die Wochenarbeitszeit geknüpft wird.

Gleichstellung von Frauen im Arbeitsleben

Deutschland hat eine der niedrigsten Frauenerwerbsquoten in der Europäischen Union. Dem muss durch entschlossenes politisches und gesellschaftliches Handeln entgegengewirkt werden.

Die Ursachen liegen vor allem in der Ungleichbehandlung von Frauen in der Arbeitswelt und in einer Ausrichtung der sozialen Sicherungssysteme auf das “männliche Normalarbeitsverhältnis”. Leider sind es in den meisten Fällen immer noch Frauen, die sich um die Kindererziehung kümmern und Familienphasen einlegen. Die Folge ist ein erschwerter Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt und eine mangelhafte soziale Sicherung.

Unser Ziel ist, eine Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit auf beide Geschlechter. Dies bedeutet, dass die gesetzlichen Regelungen und die Sozialversicherungen sowie die Steuergesetzgebung eine Teilung von Arbeit begünstigen und nicht erschweren dürfen. Das Ehegattensplitting ist ein Hemmnis für den Eintritt von Frauen in das Berufsleben. Es ist daher abzuschaffen.

Um beiden Geschlechtern die Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen, müssen Kindergärten und Schulen verlässliche Halbtagesangebote und zunehmend auch Ganztagesbetreuung für Kinder und Kleinkinder bieten.

Wir wollen den Erziehungsurlaub auf beide Elternteile verteilen. Hierbei soll sich an skandinavischen Modellen orientiert werden.

Langzeitarbeitslosigkeit bekämpfen - Neue Brücken in den Arbeitsmarkt

Eine sozial gerechte und moderne Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik muss die Menschen nach ihren Kräften und Möglichkeiten zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben aktivieren, anstatt Menschen, die in soziale Notsituationen geraten sind, lediglich dauerhaft passiv zu alimentieren.

Das Ziel einer modernen Arbeitsmarktpolitik muss sein, dass einfache Tätigkeiten auch vom Markt angenommen wird, d.h., dass es sich sowohl für Betriebe und private Haushalte lohnt, einzustellen, als auch für Arbeitssuchende lohnt, Arbeit anzunehmen. Die Beschäftigungspotentiale bei haushalts- und personenbezogenen Dienstleistungen wollen wir durch intelligente arbeitsmarktpolitische Instrumente freisetzen. Diese müssen so gestaltet sein, daß keine neue Schicht von arbeitenden Armen entstehen kann, wie sie aus angelsächischen Ländern bekannt ist, wo mancher 3 Minijobs braucht, um leben zu können.

Langzeitarbeitslose sehen sich oft der Situation gegenüber, dass sie nach einer mehrjährigen Pause nicht mehr die nötige Qualifikation aufweisen, um in den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren und damit ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Daher sollen für jeden Erwerbslosen Trainings- und Weiterbildungsprogramme maßgeschneidert werden, um ihn fit für den Arbeitsmarkt machen. Der Staat hat die Verpflichtung Arbeitslosen Chancen und eine professionelle Betreuung anzubieten. Gerade in einer schrumpfenden Gesellschaft wird jede Ressource und das Potential und Wissen aller gebraucht. Ein solidarisches Gemeinwesen ist nur durch gegenseitige Rechte und Pflichten funktionsfähig. Wir erwarten, dass Arbeitslose ihnen angebotene, zumutbare Stellen oder Unterstützungs- und Qualifizierungsmaßnahmen auch annehmen. Auf der anderen Seite muss die Gesellschaft ihnen auch die Möglichkeit hierzu geben. Deshalb werden wir festschreiben, dass alle arbeitsfähigen Transferempfänger nach spätestens 12 Monaten Arbeitslosigkeit ein Arbeitsangebot erhalten. Steht ein solches Arbeitsangebot trotz Kombieinkommen am privaten Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung, so muss das Angebot am zweiten Arbeitsmarkt erfolgen. ABM darf aber kein Dauerparkplatz für Langzeitarbeitslose werden, sondern kann nur ein kurzfristige Notlösung sein.

Wir halten die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe schon allein aus Gründen der Gerechtigkeit für richtig. Wird das verpflichtende und zumutbare Arbeitsangebot nach höchstens 12 Monaten Arbeitslosigkeit nicht angenommen, wird ab dann nur noch Sozialhilfe gewährt. Wir halten es für notwendig, die Anrechnung von Vermögen neu zu justieren, um sicherzustellen, dass Arbeitssuchende in ihrer notwendigen Mobilität nicht eingeschränkt und ihre Alterssicherungen nicht angegriffen werden.

Neben passgenauen Qualifizierungsmaßnahmen im Rahmen zielgruppenorientierter Programme sehen wir vor allem in Kombilohnmodellen einen Ansatz, gering qualifizierten TransferempfängerInnen eine Brücke in den Arbeitsmarkt zu bauen. Hierfür sind generell verbesserte Anrechnungsmodalitäten von eigenem Erwerbseinkommen auf Transferleistungen notwendig, um zumindest ein temporäres Nebeneinander von Arbeits- und Transfereinkommen zu ermöglichen. Bei den Empfängern der Sozialhilfe bzw. des Arbeitslosengeldes II wollen wir dies durch eine Art Einstiegsgeld gewährleisten, indem wir die Transferentzugsrate auf die Sozialhilfe absenken. Für die Bezieher von Arbeitslosengeld I wollen wir die Ansprüche an die Arbeitslosenversicherung auch als Lohnergänzungsleistung, nicht nur als Lohnersatzleistung auszahlen, wenn Arbeitslose während des Bezugsrechts auf Arbeitslosengeld eine Stelle annehmen, bei der die Entlohnung deutlich unter der Entlohnung bei ihrer vorangegangenen Beschäftigung liegt. Die Arbeitslosenversicherung finanziert dann zeitlich befristet einen Teil des Lohnausfalls und wird damit zur Lohnversicherung weiterentwickelt.

Regionalisierung der Arbeitsverwaltung

Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass unterschiedliche regionale Bedingungen auch unterschiedliche Antworten und Politikkonzepte erfordern. Damit dies gewährleistet werden kann und die Maßnahmen gezielt, effektiv und möglichst nah am Problem umgesetzt werden können, befürworten wir die Regionalisierung der Arbeitsmarktpolitik. Dreh- und Angelpunkt ist dabei eine bessere Koordination zur Nutzung von Synergieeffekten zwischen Arbeits- und Sozialamt. Dies hat den Vorteil, dass Arbeitssuchende bei Antragstellung, Arbeitsvermittlung oder Eingliederungsplänen nur eine Stelle anlaufen müssen. Dies kann eine effizientere Arbeitsvermittlung zur Folge haben. Vor Ort können die Regionen am besten entscheiden wo es Beschäftigungspotentiale gibt.

Es ist falsch die Kompetenzen für Betreuung und Vermittlung allein bei den Arbeitsämtern anzusiedeln. Richtig ist vielmehr eine gemeinsame Zuständigkeit mit den Kommunen zu installieren und den Kommunen im Rahmen der Gemeindefinanzreform die dafür notwendigen Finanzmittel zur Verfügung zu stellen.

Trotz alledem muß es dabei möglich sein, Arbeitssuchende aus Regionen mit Arbeitskräfteüberschuß in auch entferntere Regionen mit einer Überschußnachfrage nach Arbeitskräften zu vermitteln.