Entschließung: Deutschland und Europa (1989)

Aus Beschlussdatenbank der SPD Schleswig-Holstein
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Gremium: Landesparteitag
Sitzung: Landesparteitag Timmendorfer Strand 1989
Bezeichnung:
Antragsteller: Landesvorstand


Beschluss: Angenommen


I.

Die Eutiner Beschlüsse der SPD Schleswig-Holstein von 1966 waren ein Anstoß zu einer neuen Ost- und Deutschlandpolitik der SPD und der Bundesrepublik Deutschland.

Diese Politik wurde auf den Trümmern der gescheiterten Deutschlandpolitik der Union und gegen ihren erbitterten Widerstand durchgesetzt. Sie hat seit 1969 unter sozialdemokratischer Regierungsverantwortung Verträge und Abmachungen mit der DDR, Polen und der Sowjetunion ermöglicht, die der Entspannung in Europa und der Normalisierung zwischenstaatlicher Beziehungen dienten.

Sie hat zur Existenzsicherung Berlins geführt, durch erweiterte Reise- und Besuchsmöglichkeiten sowie durch Familienzusammenführung die Teilungsfolgen für viele Menschen gemildert, den Helsinki-Prozess gefördert und dazu beigetragen, dass die Bürgerinnen und Bürger der DDR gegenüber der Staatsmacht ihre Rechte aus den KSZE-Beschlüssen einfordern können. Unsere Politik war so erfolgreich, dass die Kohl-Regierung sie übernommen hat und sich ihrer Erfolge rühmt.

Auf den Erfolg ihrer Regierungspolitik bauend, hat die SPD in der Opposition in Gesprächen mit der Staatspartei der DDR Vorschläge für eine atomwaffenfreie Zone in Europa erarbeitet. Sie hat damit in der internationalen Spannungsphase atomarer Aufrüstung zur deutsch-deutschen Verantwortungsgemeinschaft und zur Entspannung im Zentrum Europas beigetragen.

Unsere Politik bleibt richtig. Sie muss heute um die sozialdemokratische Vision eines einigen und friedlichen Europas ergänzt werden. Sie muss die neuen Chancen nutzen durch unsere Bereitschaft zu einem solidarischen Beitrag zum demokratischen Wandel in der DDR, damit die historische Chance der Freiheit, die sich in Osteuropa durch die Politik Gorbatschows eröffnet hat, auch von den Bürgerinnen und Bürgern der DDR genutzt werden kann.


II.

Europa hat eine historische Chance

Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte Europas besteht die reale Möglichkeit, durch Abrüstung und Zusammenarbeit Krieg in Europa unmöglich zu machen und durch einen demokratischen Reformprozess den Frieden auf die freie Zustimmung der Menschen in Ost und West zu gründen.

Zum ersten Mal besteht eine Chance, die drängenden ökologischen und ökonomischen Probleme im gemeinsamen Haus Europa gemeinsam zu lösen.

Zum ersten Mal führen Reformbewegungen in einer Reihe von Staaten des Warschauer Vertrages zu revolutionären Veränderungen.

Zum ersten Mal könnte der Traum einer sozialen und friedlichen europäischen Staatsgemeinschaft Wirklichkeit werden, die auf den zugleich vielfältigen und gemeinsamen Traditionen der Aufklärung und des Humanismus, der Demokratie und des sozialen Rechtsstaats fußen.

Zum ersten Mal besteht in Europa die historische Chance, den Demokratischen Sozialismus mehrheitsfähig zu machen.

Die diese Ziele hat die SPD immer gearbeitet.


III.

Wir sehen aber auch die Risiken auf dem Weg zur Verwirklichung unseres Traumes.

Das moralische und ökonomische Versagen des Staatskommunismus ist offensichtlich. Über die Fehler der anderen dürfen wir aber nicht Fehlentwicklungen im eigenen Lande verdrängen: Das Modell der Zweidrittel-Gesellschaft im Westen ist keine Alternative zur Herrschaft der östlichen Parteibürokratien. Die Freiheit des Individuums muss immer und überall gegen die Macht von Staat und Bürokratie verteidigt werden. Auch im Westen sind ökologische und soziale Reformen notwendig.

Die Rechte nationaler Minderheiten müssen gestärkt werden. Aber der Verlust an Zentralmacht und der Gewinn von Freiheit für die Völker der Ostens dürfen nicht zu nationalistischen und chauvinistischen Reaktionen führen.

Öffnung und Schließung von Grenzen führen unter den gegebenen Bedingungen zu Fluchtbewegungen. Wer aus Not, Unterdrückung und menschenunwürdigen Zuständen als Deutscher zu uns kommt, bedarf unserer Hilfe. Sie ist selbstverständlich, so wie wir auch denen helfen wollen, die als Nichtdeutsche wegen Verfolgung in ihrem Heimatland bei uns Asyl suchen. Fluchtbewegungen werden erst zum Stehen kommen, wenn es gelingt, ihre Ursachen zu beseitigen: die Defizite an persönlicher und politischer Freiheit sowie den Mangel an wirtschaftlicher Wohlfahrt und sozialer Gerechtigkeit im Osten. Nur eine Reformpolitik kann nötige Antworten liefern.

Wir in den Staaten Westeuropas haben eine Mitverantwortung dafür, dass der Reformprozess in Osteuropa gewaltfrei erfolgen kann. Strategien der Destabilisierung und Hoffnungen auf Zusammenbrüche sind unverantwortlich. Sie können für alle Menschen in Europa unabsehbare Folgen haben.

Die Wiedervereinigungsrhetorik aus den Reihen der Konservativen kann den Reformprozess im Osten gefährden. Nicht anachronistische Angliederungsvorstellungen, sondern nur die bedrohungsfreie und solidarische Begleitung einer eigenständigen und souveränen Reformpolitik in der DDR und in Osteuropa kann den Völkern in Osteuropa und den Deutschen helfen.


IV.

Auf dem Weg zum geeinten Europa sind notwendig:

  1. Die Anerkennung der Grenzen, die nach 1945 in Europa gezogen wurden. Wer heute die Frage der staatlichen Einheit Deutschlands in den Grenzen von 1937 aufwirft, gefährdet den Prozess der europäischen Sicherheit und der Reformen in Osteuropa. Er schadet damit allen, nicht zuletzt den Menschen in der DDR.
  2. Sicherheitspartnerschaft, Abrüstung und Angriffsunfähigkeit der Streitkräfte mit dem Ziel, Nato und Warschauer Vertrag bis zum Jahr 2000 zu ersetzen durch ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem, durch den Europäischen Frieden.
  3. Die Verwirklichung demokratischer Prinzipien in den Staaten Osteuropas wie Versammlungs- und Meinungsfreiheit, freie Wahlen, das Recht auf politische Organisation, Reisefreiheit und das Recht auf Ausreise, die Garantie der Rechte nationaler Minderheiten, die Menschrechte. Jeder Staat ist für seine Wohnung im Europäischen Haus verantwortlich. Wir wissen, dass wir auch bei uns vieles in Ordnung bringen müssen. Aber wenn die Zustände beim Nachbarn so unerträglich sind, dass sich Menschen zu uns flüchten, dann müssen wir auch dort auf Veränderungen drängen.
  4. Eine großzügige Hilfe zur Belebung der Wirtschaft durch Westeuropa, die EG und vor allen auch die Bundesrepublik Deutschland. Dazu gehören
    • der Abbau der Handelsbeschränkungen gegenüber den reformbereiten Staaten Osteuropas,
    • ein Europa-Kapitalfonds zur Finanzierung von privaten und öffentlichen Investitionen, zur Modernisierung bestehender Betriebe und zur Durchführung von Umweltschutzmaßnahmen,
    • die Förderung von Investitionen westeuropäischer Unternehmen in Staaten Osteuropas,
    • die Bereitstellung von Krediten der Weltbank, der Europäischen Investitionsbank und der Kreditanstalt für Wiederaufbau zur Finanzierung wirtschaftsnaher Infrastrukturprojekte.
  5. Ein Bauplan für die institutionelle Verklammerung der verschiedenen Teile Europas, der gesamteuropäische Institutionen (wie z.B. Umweltbehörde, Energievertrag, Abrüstungsbehörde) genauso möglich macht wie eine Verbindung von EFTA, EG und reformbereiten Staaten des Comecon durch eine Freihandelszone. Die westeuropäische Integration muss in den Dienst des ganzen Europa gestellt werden.


V.

Ein erfolgreicher Prozess zur Einigung Europas ist eine Voraussetzung, die deutsche Teilung überwindbar zu machen.

  • Die Anerkennung der gegenwärtigen Grenzen,
  • die Verwirklichung von Demokratie und Selbstbestimmung für die Menschen in der DDR,
  • die schrittweise Aufhebung der Bedeutung der Grenzen und die Relativierung der Staatlichkeit der beiden Deutschland durch Abtretung von Souveränität an europäische Institutionen und Integration in einem gemeinsamen europäischen Markt –

das sind Elemente einer Deutschlandpolitik im Interesse aller Deutschen, vor allem auch der 18 Millionen in der DDR. Sie dürfen nicht die Deutschen werden, die zuletzt und allein den verlorenen Krieg zu bezahlen haben.

Wir sind uns bewusst, dass die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten in besonderer Weise ausgestaltet werden müssen, wie es die gemeinsame Geschichte und die Zugehörigkeit zu einer Nation nahelegen. Aus der Verantwortung vor ihrer Geschichte und aus ihrer historisch gewachsenen Situation können beide deutschen Staaten die Funktion als Bindeglied für das zusammenwachsende Europa übernehmen. Ihre Einheit kann nur eine Folge und ein Teil europäischer Einheit sein.

Die Deutschen in der DDR brauchen mehr Freiheit: Freiheit als individuelles Menschenrecht, Freiheit als unentbehrliches Element für Identifikation mit dem Staat.

Die DDR braucht einschneidende Reformen. Anders kann ein eigener Weg der DDR nicht entwickelt werden, auf dem die Menschen eine Perspektive zum Bleiben gewinnen. Durch Reformen würde die DDR nicht destabilisiert, sondern stabilisiert. Sozialismus ist nur lebensfähig, wenn er mit Demokratie und Freiheit verbunden ist. Wir verlangen nicht, dass die DDR den – so verstandenen – Sozialismus aufgibt, sondern dass sie mit ihm endlich anfängt.

Die Fortsetzung von Kontakten und Vereinbarungen mit der Staats- und Parteiführung liegt im Interesse aller Deutschen, wenn dabei über alles gesprochen wird, was die Menschen in Ost und West bedrückt. Gespräche müssen zu Veränderungen führen.

Wir Sozialdemokraten werden die Kräfte politisch und moralisch unterstützen, mit denen uns die Prinzipien der Friedenssicherung und Abrüstung, der Demokratie, des Schutzes unserer Umwelt und sozialen Gerechtigkeit gemeinsam sind.

Zu den Demonstrationen in der DDR am 7./8. Oktober 1989 erklärte der Landesparteitag der schleswig-holsteinischen SPD in Timmendorfer Strand:

Wir haben Verständnis für die wachsende Ungeduld vor allem der Jüngeren in der DDR, die jetzt ein Zeichen von Reformbereitschaft von der DDR-Führung erwarten. Sie können sich auf den Ausspruch Gorbatschows berufen: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ – In der DDR ist es noch nicht zu spät.

Wir richten den dringenden Appell an die Führung der DDR, sich nicht auf den Weg der gewaltsamen Repressionen zu begeben.

Wir appellieren an die Opposition, ihre Proteste und ihre berechtigten Forderungen friedlich und gewaltfrei zu vertreten.

Wir verurteilen den massiven Einsatz von Sicherheitskräften gegen die Demonstranten und die Festnahme von Demonstranten.

Wir erwarten, dass die Festgenommenen sofort freigelassen werden und endlich der Dialog zwischen der Führung von DDR und SED und den kritischen und oppositionellen Gruppen in der DDR aufgenommen wird.