Standortbestimmung sozialdemokratischer Deutschlandpolitik (1986)

Aus Beschlussdatenbank der SPD Schleswig-Holstein
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Gremium: Landesparteitag
Sitzung: Landesparteitag Meldorf 1986
Bezeichnung: Nicht aufgeführt
Antragsteller: Nicht aufgeführt


Beschluss: Angenommen und Überwiesen an Bundesparteitag

Sozialdemokratische Deutschlandpolitik ist Bestandteil unserer Friedenspolitik. Es ist unser Ziel, gegenseitige Bedrohungen abzubauen, trennende Grenzen zu überwinden und den Austausch von Informationen und Meinungen zwischen Deutschen und Deutschen zu fördern. Dieses Ziel ist nur erreichbar in der Verantwortungsgemeinschaft der beiden deutschen Staaten und der Zusammenarbeit der Repräsentanten beider Staaten auf allen politischen und organisatorischen Ebenen.

Gleichzeitig wissen wir, daß die prinzipiellen gesellschaftspolitischen Unterschiede zwischen demokratischen Sozialisten und Kommunisten durch diese Politik nicht überwunden oder relativiert werden. Das Prinzip des "demokratischen Zentralismus" ist mit unserer Vorstellung von demokratischer Meinungsbildung ebensowenig vereinbar wie der Weg der "proletarischen Revolution" mit demokratischen Wahlen im pluralistischen Staat.

Die Sozialdemokraten kämpfen für die Selbstbestimmung aller Menschen und Völker und stehen damit im entschiedenen Gegensatz zur Politik der Kommunisten. Die Organisationen des demokratischen Sozialismus sind in den Ländern Osteuropas einschließlich der DDR nach dem Zweiten Weltkrieg gewaltsam unterdrückt, verschmolzen und Verboten worden. Obwohl zahlreiche Sozialdemokraten politisch diszipliniert wurden, ist die Idee des demokratischen Sozialismus und sind seine Grundwerte - Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität — auch in diesen Ländern lebendig geblieben.

Natürliche Bündnispartner für demokratische Sozialisten sind daher kirchliche und andere Friedensbewegungen sowie die soziale Bewegung der Arbeitnehmer für mehr gewerkschaftliche Mitbestimmungsrechte. Ihnen fühlen wir uns solidarisch verbunden, wenn wir mit Vertretern der SED und ihr nahestehender Organisationen über Verhandlungen eine neue Phase der Deutschland- und Abrüstungspolitik anstreben. Dabei lehnen wir jede Form des Antikommunismus entschieden ab, weil er im Inneren und Äußeren zutiefst intolerant und friedensgefährdend ist. Die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung zwischen Sozialisten und Kommunisten, die für uns auch eine gesamtdeutsche Aufgabe ist, bedarf der beiderseitigen Absage an Militanz und Aggressivität.


1. Die Sozialdemokraten erklären, daß die gegenwärtigen Grenzen unverletzlich sind und daß eine Wahrung nationaler, kulturgeschichtlich gewachsener Identität nur auf der Basis des Grundlagenvertrages möglich ist, der das gleichberechtigte Nebeneinander der beiden deutschen Staaten geregelt hat. Dies ist die Voraussetzung dafür, daß es politisch zu einem Miteinander kommen kann.


2. Der Grundlagenvertrag hat die Staatlichkeit der DDR bestätigt. Alle Verfassungsorgane der Bundesrepublik müssen dies akzeptieren. Die Anerkennung der international gültigen Staatsmerkmale - Staatsgebiet, Staatsgewalt, Staatsvolk -‚ wie sie durch die Völkergemeinschaft gegenüber beiden deutschen Staaten praktiziert wird, ist die Voraussetzung zur Überwindung von Grenzen im Rahmen einer europäischen Friedensordnung. Das Leugnen der Staatlichkeit der DDR unter Betonung nationaler Gemeinsamkeiten führt nicht zu größerer Nähe und mehr Freizügigkeit.


3. Wir Sozialdemokraten sind verantwortlich für Entwicklung und Weiterentwicklung der Entspannungspolitik: In der Regierung haben wir durch Ostverträge und insbesondere den Grundlagenvertrag den Nachweis erbracht, daß die Anerkennung von Realitäten zu größerer Freizügigkeit, zu Mitstatt bloßem Nebeneinander führt. In der Opposition wurden durch die Initiativen auf der Ebene der Parteien SPD und SED - so unterschiedlich und gegensätzlich ihre ideologische Ausrichtung ist -‚ neue Impulse für die deutsch-deutschen Beziehungen gegeben.


4. Die SPD hat das historische Ergebnis der Westintegration der Bundesrepublik durch die Politik Adenauers akzeptiert. Während wir jedoch die Handlungsspielräume des Bündnisses gestaltend für den friedlichen Ausgleich mit den östlichen Nachbarn nutzen‚ bedarf es zur Erreichung deutschlandpolitischer Gemeinsamkeiten aller im Bundestag vertretenen Parteien nach wie vor einer vollen Akzeptanz der Ostpolitik Willy Brandts durch die CDU/CSU.


5. Gestaltende Deutschlandpolitik braucht dabei mehr als die alltäglich wiederholten Hinweise auf die Handlungsgrenzen und -maßstäbe‚ die das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil über den Grundlagenvertrag gesteckt hat. Denn dieses Urteil selbst ist in sich widersprüchlich, wenn es einerseits die Staatlichkeit der DDR anerkennt mit der Konsequenz, daß sich die Hoheitsgewalt der Bundesrepublik auf ihr Staatsgebiet beschränkt, andererseits den Charakter der Grenzen zwischen beiden deutschen Staaten mit denen der Ländergrenzen innerhalb der Bundesrepublik gleichsetzt. Wir stellen fest: In seiner einengenden Interpretation des Grundlagenvertrages wird es den aktuellen Anforderungen notwendiger Entwicklungen in der Deutschlandpolitik nicht gerecht. Wir sagen: Die Unmenschlichkeit dieser Grenze wird nicht durch juristische Selbsttäuschung abgebaut, sondern durch Verhandlungen auf der Grundlage der wechselseitigen staatlichen Anerkennung.


6. Gestaltet werden muß vielmehr das besondere Verhältnis der beiden deutschen Staaten, die ihre gemeinsame Kultur haben und pflegen, in zwei unterschiedliche Bündnissysteme einbezogen sind und auf der Grundlage der gegenseitigen staatlichen Anerkennung einer den anderen weder als Inland noch als Ausland betrachtet. Die Diskussion über den Fortbestand des Deutschen Reichs und eine "offene deutsche Frage" führt in die Irre. Unsere Chance liegt im Aufbau einer gesamteuropäischen Friedensordnung‚ an der wir uns in besonderem Maße beteiligen wollen.


7. Im Vordergrund deutschlandpolitischer Initiativen, die Berlin nie unberücksichtigt lassen dürfen, stehen dabei

  • die Bemühungen beider Staaten zur Friedenssicherung in Anerkennung der Verantwortungsgemeinschaft durch die Entwicklung hin zur Sicherheitspartnerschaft auf dem Weg zu einem blockübergreifenden europäischen Sicherheitssystem;
  • das Bemühen beider deutscher Staaten in ihren jeweiligen Bündnissystemen für konkrete Abrüstungsschritte‚ wie sie zum Beispiel im Vorschlag für ein Abkommen von SPD und SED über eine chemiewaffenfreie Zone in Mitteleuropa und über die Schaffung eines atomwaffenfreien Korridors entsprechend dem Palme-Vorschlag entwickelt werden;
  • die Erweiterung und Verbesserung der bisher vereinbarten Reise- und Besuchsmöglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger beider deutscher Staaten mit dem Ziel der Normalisierung des Grenzverkehrs; der schrittweise Abbau der Grenzanlagen in ihrer heutigen Form;
  • die Schaffung eines deutsch-deutschen Jugendwerks;
  • der Ausbau der deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen auch in Form gemeinsamer Projekte zugunsten von Ländern der Dritten Welt;
  • grenzübergreifender Umweltschutz;
  • Verstärkung der kulturpolitischen Zusammenarbeit auf allen Ebenen bis zur gemeinsamen Entwicklung von Schulgeschichtsbüchern gleichen Inhalts;
  • neue Städtepartnerschaften, kommunale Kontakte im grenznahen Raum und sektoraler Erfahrungsaustausch besonders zwischen Arbeitnehmern und ihren Betriebsräten.


8. Ohne die politische Klärung aktueller Streitfragen wird es dabei keine perspektivischen Entwicklungen geben. Deshalb halten wir Sozialdemokraten folgende Diskussions- und Lösungsansätze für erforderlich:

  • die Aufnahme offizieller Kontakte zwischen Bundestag und Volkskammer;
  • die Auflösung der Erfassungsstelle Salzgitter als einer die Souveränität der DDR anfechtenden Institution;
  • Verhandlungen zur Lösung der strittigen Frage des Verlaufs der Grenze auf der Elbe. Dabei sollen insbesondere der Umweltschutz und Gegenleistungen auf dem Gebiet der Ostseefischerei behandelt werden. Eine Feststellung der Grenzkommission auf einen Grenzverlauf in der Strommitte würde der Wirklichkeit der letzten 40 Jahre entsprechen.
  • die auf der Grundlage des Grundgesetzes mögliche volle Respektierung der Staatsangehörigkeit der DDR im Rahmen der Gesetzgebung wie konkreten Verwaltungshandelns der Behörden der Bundesrepublik. Das entsprechende praktische Verhalten unserer Behörden würde zu einem verstärkten Miteinander im Sinne größerer Freizügigkeit führen. Unser Staatsbürgerrecht bleibt unverändert für jeden, der es als Option wahrnehmen kann und will.