V 1: Radikalenerlaß (1977)

Aus Beschlussdatenbank der SPD Schleswig-Holstein
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Gremium: Landesparteitag
Sitzung: Landesparteitag Tönning 1977
Bezeichnung: V 1
Antragsteller: Kreisverband Steinburg


Beschluss: Angenommen


(Veröffentlicht in: „Zur Sache“ Nr. 4, August 1977 - Herausgeber: SPD-Landesverband Schleswig-Holstein)


Am 28. Januar jährte sich zum fünften Mal der sogenannte "Radikalenerlass", dessen Anwendung in weiten Teilen unserer Bevölkerung und im Ausland das Vertrauen in unsere demokratische, sozial-und rechtsstaatliche Ordnung erschüttert hat.

Es beunruhigt uns zutiefst und erfüllt uns mit Sorge,

  • wenn seit 1977 vornehmlich politisch links stehende Bewerber mit der Begründung nicht in den öffentlichen Dienst aufgenommen werden, sie böten nicht die Gewähr, jederzeit für die freiheitlich demokratische Grundordnung einzutreten;
  • wenn allein die Mitgliedschaft in einer nicht gemäß Art. 21, Abs. 2 GG vom Bundesverfassungsgericht verbotenen Partei oder nach Art. 9 verbotenen Vereinigung als Ablehnungsgrund ausreicht;
  • wenn die Ablehnungsgründe sich u. a. auf von Spitzeln zusammengetragene "Erkenntnisse" der Verfassungsschutzbehörden stützen und den Betroffenen die Beweislast für ihre Verfassungstreue auferlegt wird;
  • wenn Bewerbern nicht konkrete Handlungen, sondern ihre politische Gesinnung zum Vorwurf gemacht wird.

Auch nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts halten wir den Ministerpräsidentenbeschluss mit dem Grundgesetz nicht für vereinbar. Diese unsere Auffassung wird nicht nur durch die Sondervoten von drei Verfassungsrichtern, insbesondere des Verfassungsrichters Rupp, sondern auch durch die vielstimmige Kritik in der verfassungsrechtlichen Literatur gestützt.

Zwar haben die Bundesregierung und einige Länder diesen Beschluss mittlerweile aufgekündigt, zwar hat die SPD durch ihren Parteitagsbeschluss in Mannheim und durch die nachfolgende Verlautbarung des Präsidiums vom 11. 6. 1975 ausdrücklich betont, in dieser Frage "konsequente Rechtsstaatlichkeit" und den "Geist der Liberalität" walten zu lassen — in der bisherigen Praxis der Berufsverbote hat sich bisher jedoch - auch in SPD-regierten Ländern - kaum etwas geändert.

Die Verwendung des inhaltlich völlig unbestimmten Begriffs der Radikalität als Kriterium einer behaupteten "Verfassungsfeindlichkeit" ermöglicht so, jede unliebsame politische Meinung zu diffamieren und zu kriminalisieren. Auf diese Weise wird die für jede Demokratie lebensnotwendige sachliche Diskussion über alternative politische Vorstellungen umgangen und ein Klima geschaffen, in dem kritiklose Anpassung als staatsbürgerliche Tugend erscheint. Auf diese Weise wird die argumentative, demokratische Auseinandersetzung in unerträglicher Weise eingeschränkt, der gesellschaftliche Wandel im Rahmen demokratischer Prozesse mehr und mehr behindert.

Im Zuge einer großangelegten Kampagne gegen "Verfassungsfeinde" werden die staatlichen Machtinstrumente und die rechtlichen Eingriffsmöglichkeiten in die Freiheit des einzelnen immer weiter ausgebaut. Vor dem Hintergrund einer angeblichen Bedrohung durch sogenannte Radikale wird der Ruf nach einem "starken Staat" immer lauter. Dabei wird übersehen, dass ein demokratischer Staat vor allem dann stark ist, wenn er in seinem Handeln und in seiner Grundorientierung von der breiten und freien Zustimmung seiner Mitglieder getragen wird.

Es ist nach unserer Meinung eine vorrangige Aufgabe der deutschen Sozialdemokratie, dieser Entwicklung entschlossen und geschlossen entgegenzutreten. Die SPD darf niemals ihre eigenen schmerzlichen Erfahrungen mit dem Bismarck’schen Sozialistengesetz und dem NS-Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vergessen, sondern muss sie zum Ausgangspunkt ihres eigenen Handelns bei der Bewertung von politischen Überzeugungen und Aktivitäten machen.

Die SPD darf aus taktischen Erwägungen nicht davor zurückschrecken, der Welle von politischer Hysterie entschieden entgegenzutreten, die von konservativen Gruppen systematisch geschürt wird. Dem Drängen der CDU/CSU nach einem "starken Staat", der die Grundfreiheiten des Bürgers einschränkt, darf auch nicht schrittweise nachgegeben werden.