A4: Soziale Gerechtigkeit (1995)

Aus Beschlussdatenbank der SPD Schleswig-Holstein
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Gremium: Landesparteitag
Sitzung: Landesparteitag Damp 1995
Bezeichnung: A4
Antragsteller: Nicht aufgeführt


Beschluss: Angenommen


Wer den Sozialstaat erhalten will, muß ihn modernisieren

Die SPD will den Sozialstaat modernisieren, um seine Leistungsfähigkeit zu sichern und zu stärken und um die Teilhabemöglichkeiten der Menschen zu erweitern.

Der Sozialstaat hat eine freiheitsstiftende Aufgabe: als Versicherung auf Gegenseitigkeit gegen die Risiken des Lebens und als Garant für die Teilhabe am sozialen und politischen Prozeß. Beide Prinzipien machen den Charakter des Sozialstaates aus. Beide müssen gestärkt werden. Wir wollen den solidarischen Umbau des Systems der sozialen Sicherung. Dabei wenden wir uns gegen eine Privatisierung der elementaren Lebensrisiken.

Ein hoher Grad sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung ist die Voraussetzung für das Funktionieren der Sozialpolitik.

Wir brauchen daher:

  • eine innovative Wirtschaftspolitik
  • eine aktive Arbeitsmarktpolitik
  • eine ökologische Steuerreform.

Es muß in der EU eine Sozialgesetzgebung geschaffen werden, die diesen Namen auch verdient. Über die verbindliche Umsetzung der Sozialcharta hinaus muß es Ziel einer Europäischen Sozailpolitik sein, soziale Rechte (z. B. Mindestsicherung, Aus- und Weiterbildung) europaweit festzulegen. Für alle Standards muß gelten, daß es Mindeststandards sind, die sich aus den Mittelmaßen ergeben, die von den schwächsten Gliedern erst noch zu erreichen sind. Die stufenweise Erhöhung auf die weitestgehenden Standards in den Mitgliedsländern muß als endliches Ziel fixiert werden.

Sicherung der Einkommen - Entlastung der Familien

Die SPD tritt dafür ein, daß möglichst viele Menschen durch eigene Erwerbsarbeit die Mittel erhalten, um ihre Lebensplanung ohne staatliche Hilfe zu verwirklichen. Die Sicherung eines ausreichenden Einkommens ist die Grundvoraussetzung dafür. Lohndumping und eine unsoziale Steuerpolitik haben in der Vergangenheit dazu geführt, daß immer mehr Arbeiter und ihre Familien von Sozialhilfe abhängig geworden sind.

  • Wir fordern deshalb eine Steuerpolitik, die insbesondere Geringverdiener und ihre Familien entlastet. Die Pläne der Bundesregierung zur steuerlichen Freistellung des Existenzminimums sind unzureichend.
  • Als einen Schritt zur Gleichstellung von Männern und Frauen und der Anerkennung nichtehelicher Lebensgemeinschaften und anderer Lebensformen betrachten wir die Auflösung des Ehegattensplittings. In diesem Zusammenhang ist weiterhin eine Reform des Steuerklassensystems nowendig, um die historisch überholte Einteilung in lndividual- und Familienlohn aufzuheben.
  • Wir halten unverändert an der Absicht fest, die ungerechten Kinderfreibeträge durch ein einheitliches Kindergeld in Höhe von 250 DM im Monat zu ersetzen. Das Kindergeld soll dabei unmittelbar bei der Steuerfestsetzung als Abzug von der Steuerschuld berücksichtigt werden. Dies ist auch ein Beitrag zur Steuer- und Verwaltungsvereinfachung.
  • Die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer stagnieren seit Mitte der 80er Jahre. Um eine von staatlicher Hilfe unabhängige Existenz zu sichern, sind höhere Lohneinkommen der Arbeiter und Angestellten notwendig. Der internationale Konkurrenzdruck der Wirtschaft läßt sich durch Lohndumping nicht beseitigen.
  • Die Abgabenbelastung der Arbeitnehmer ist zu hoch. Wir bekräftigen unsere Absicht, durch eine finanzielle Beteiligung aller Teile der Gesellschaft an den Kosten einer aktiven Arbeitsmarktpolitik und durch die Senkung von Lohnnebenkosten im Zusammenhang mit der Einführung einer Öko-Steuer, die Abgabenlast zu senken.
  • Es muß eine bedarfsorientierte Mindestsicherung für Erwerbsunfähige, RentnerInnen, SchülerInnen, Studierende und Arbeitslose und damit auch für Menschen, die sich der Erziehungs- und Pflegearbeit widmen, eingeführt werden. Sie muß ein Niveau haben, das die Sicherung der Existenz gewährleistet und eine Teilnahme am soziokulturellen Leben ermöglicht.
    Als einen wichtigen Schritt zur Aufhebung der geschlechtspezifischen Arbeitsteilung im Bereich der Kindererziehung muß der Erziehungsurlaub von beiden Elternteilen bindend je zur Hälfte genommen werden. Alleinerziehende haben Anspruch auf den gesamten Erziehungsurlaub, und bei Eltern, von denen nur eine Seite den Erziehungsurlaub in Anspruch nehmen will, ist der Anspruch auf die andere Hälfte verwirkt.
  • Wir setzen uns für die Sozialversicherungspflicht für alle Beschäftigungsverhältnisse ein und wollen die sozialversicherungsfreien Beschäftigungsverhältnisse abschaffen.

Solidarität erhalten - gegen den Zerfall der Gesellschaft

Die Zukunft vor Freiheit und Solidarität liegt jenseits von Staat und Markt. Deshalb muß nicht nur der Einfluß des Staates auf das Leben der Menschen, sondern auch der des Marktes begrenzt werden.

Die Ideologie des grenzenlosen Marktes führt zunehmend zu einem ruinösen weltweiten Wettbewerb und zerstört die Erwerbsgrundlagen von immer mehr Menschen. Die Politik der Deregulierung hat eine Spirale ohne Ende in Gang gesetzt: Lohnsenkungen schaffen die Voraussetzung für die Senkung der Sozialleistungen, und diese führen erneut zu Forderungen nach Lohnsenkungen usw.

80 Millionen Erwerbslose in der Europäischen Union und Millionen Menschen, die mit weniger als dem Existenzminimum auskommen müssen, sind Beleg für das Scheitern des Wirtschaftsliberalismus. Dagegen ist der Sozialstaat machtlos.

Die Konservativen versuchen gegenwärtig wieder, drastischen Sozialabbau durchzusetzen. Zu den gegenwärtigen Vorschlägen aus der Bundesregierung bzw. der Koalition gehören

  • Kürzung der Lohnersatzleistungen
  • Abbau der Lohnfortzahlung
  • ersatzlose Streichung von Feiertagen
  • Reduzierung der Sozialhilfe
  • Privatisierung weiterer sozialer Dienstleistungsbereiche zu Lasten der wirtschaftlich Schwächeren.

Dies würde in einen anderen Staat führen, den sich nur die wirtschaftlich Starken leisten können.

Die SPD bekämpft jegliche Form des Mißbrauchs öffentlicher Leistungen: Steuerhinterziehung, Subventionsbetrug, illegale Beschäftigung und Mißbrauch von Sozialleistungen. Die SPD spricht sich aber gegen eine einseitige Diskussion über Sozialmißbrauch aus, die mit dem erkennbaren Ziel geführt wird, den Sozialstaat weiter zu diskreditieren und Hilfsbedürftige als Sündenböcke einer verfehlten Arbeitsmarkt-‚ Wirtschafts- und Sozialpolitik abzustempeln.

Angst vor Arbeitslosigkeit und Armut, aber auch die Arbeitslosigkeit und Armut selbst, wachsende Konkurrenz am Arbeitsplatz und soziale Ausgrenzung zerstören den Zusammenhalt der Gesellschaft und fördern Einsamkeit und Aggression gegen alles Fremde.

Investitionen fördern - Arbeitslosigkeit bekämpfen

  • Eine Wirtschaftspolitik, die die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Wiederherstellung eines hohen Beschäftigungsstandes anstrebt, ist die wichtigste Aufgabe sozialdemokratischer Sozialpolitik. Die Rahmenbedingungen für Investitionen und Innovationen, die maßgeblich sind bei der Schaffung neuer zukunftsfähiger Arbeitsplätze und bei der ökologischen Erneuerung der Industriegesellschaft, müssen spürbar verbessert werden.
  • Die SPD wiederholt die Forderung nach einem Bündnis gegen Arbeitslosigkeit. Die Arbeitsmarktpolitik hat sich auf aktive Maßnahmen der Beschäftigungsförderung, der Qualifizierung und auf den Erhalt von Arbeitsplätzen zu konzentrieren. Die Kosten der aktiven Arbeitsmarktpolitik müssen aus der Bundesanstalt für Arbeit schrittweise herausgenommen werden und auf eine breitere Finanzierungsbasis gestellt werden. Die Finanzierung aktiver Arbeitsmarktpolitik darf nicht weiter aus den Beitragsmitteln aus der Arbeitslosenversicherung erfolgen, sondern muß eine eigene, steuerfinanzierte Basis erhalten. So wird es möglich, antizyklische Arbeitsmarktpolitik zu betreiben, um die Massenarbeitslosigkeit abzubauen.
    Im Rahmen einer aktiven Arbeitsmarktpolitik geht es uns insbesondere
    a) um die Sicherung der Frauenerwerbstätigkeit,
    b) Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit
    c) Förderung der beruflichen Weiterqualifizierung und Umschulung.
Insbesondere soll die Eingliederung Behinderter und anderer durch die konservative Politik ausgegrenzter Gruppen in das Berufsleben gefördert werden. Dazu gehört die Verbesserung der Bereitstellung und Finanzierung von ABM und die Einrichtung von Beschäftigungsgesellschaften mit dem Ziel, diese in dauerhafte reguläre Erwerbstätigkeit zu überführen.
Für beide Maßnahmen ist eine tarifliche Bezahlung für uns Voraussetzung.
  • Um die Arbeit gerechter zu verteilen, müssen alle Formen der Arbeitszeitverkürzung genutzt werden. Notwendig ist eine Teilzeitoffensive der privaten Wirtschaft und des öffentlichen Dienstes, flexible Vorruhestandsregelungen und weitere tarifliche Arbeitszeitverkürzungen.

Die sozialen Sicherungssysteme modernisieren

Die Leistungen der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland können langfristig nur erhalten werden, wenn ihre Finanzierungsgrundlage gesichert wird. Die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit ist deshalb auch unter diesem Gesichtspunkt das wichtigste sozialpolitische Ziel. Die Verdrängung von Arbeit durch Billigarbeit und Automation geht zu Lasten der Sozialversicherungssysteme.

Versicherungsfremde Leistungen wie die Finanzierung der deutschen Einheit dürfen nicht weiter aus den Sozialversicherungsmitteln bezahlt werden.

Wir werden nicht zulassen, daß sich Unternehmen durch verstärkte Frühverrentungen, Entlassungen und Rationalisierungsmaßnahmen auf Kosten der Solidargemeinschaft sanieren.

Privatisierung ist für uns kein Selbstzweck und führt nicht automatisch zu mehr Wirtschaftlichkeit. Bei Fortführung der bisherigen Politik besteht die Gefahr, daß "Rosinen" privatisiert werden und die risikoreichen und kostenträchtigen Leistungen bei der Allgemeinheit verbleiben. Wir werden weiterhin zuerst die Ziele für sozialstaatliche Leistungen definieren und erst danach über die zur Umsetzung dieser Ziele am besten geeignete Wirtschaftsform nachdenken.

Unsere Sozialpolitik muß von der kompensatorischen zur vorbeugenden Sozialpolitik weiterentwickelt werden. Deshalb stellen wir die Verstärkung von Prävention auf allen Ebenen und die Verbesserung des Arbeitsschutzes ganz obenan. Die Wirtschafts-, Verkehrs- und Städtebaupolitik muß sozial- und gesundheitspolitisch "denken", um die Schädigung der Menschen und die Verursachung gesellschaftlicher und individueller Kosten zu minimieren. Das heutige System der sozialen Sicherung muß scheitern, oder es wird für immer weniger Menschen tatsächliche Sicherheit garantieren, wenn der Schritt zur Bekämpfung der Ursachen nicht getan wird. Damit muß die klassische Sozialpolitik zur Gesellschaftspolitik weiterentwickelt werden.

Innerhalb der sozialen Sicherungssysteme gibt es Möglichkeiten der Effizienzsteigerung. Sie müssen genutzt werden.