Humanität und Gerechtigkeit - Schleswig-Holsteinische Grundlagen in der Flüchtlingspolitik (Lavo 03/2016)

Aus Beschlussdatenbank der SPD Schleswig-Holstein
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Gremium: Landesvorstand
Sitzung: Landesvorstandssitzung, März 2016
Bezeichnung:
Antragsteller: Landesvorstand


Beschluss: Angenommen und Überwiesen an Landesparteitag

Beschlossen auf dem Landesparteitag Kiel 2016

I. Prinzipien sozialdemokratischer Flüchtlingspolitik

Die Würde aller Menschen ist Ausgangspunkt sozialdemokratischer Politik. Sie ist nach Artikel 1 unseres Grundgesetzes unantastbar. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte stellt fest: Die gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Menschen sind Grundlage für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt.

In Deutschland war das über viele Jahrzehnte der gesellschaftliche Konsens. Wir werden diesen Konsens gegen alle Angriffe von Rechts verteidigen! Das gilt erst recht nach dem Erfolg der Rechtspopulisten besonders in Sachsen-Anhalt, aber auch in den anderen Ländern.

Rheinland-Pfalz zeigt, dass eine geschlossene und entschlossen kämpfende SPD mit klarem Kurs die stärkste Kraft werden kann. Es geht jetzt darum, das Land zusammenzuhalten. Mit unserer Gerechtigkeitspolitik wollen wir die Alltagsprobleme der Menschen in den Bereichen Arbeit, Bildung, Familie und Infrastruktur anpacken. Wenn die Gesellschaft nach Rechts rückt, macht die Sozialdemokratie nicht mit. Wir kämpfen für unsere Werte!

Die Genfer Flüchtlingskonvention garantiert klare Schutzstandards für Flüchtlinge. Sie dürfen nicht diskriminiert werden. Ihre illegale Einreise muss straffrei bleiben und ihnen sind dieselben Rechten wie Ausländern im Allgemeinen zuzugestehen. Diese Grundlagen des Völkerrechts sind für uns nicht verhandelbar! Das individuelle Recht auf Asyl bleibt unantastbar. Wir stehen zu unserer humanitären Verantwortung. Wer unsere Hilfe braucht, bekommt sie.

Im Jahr 2015 sind über eine Million Menschen auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und Armut nach Deutschland gekommen. Das hat zu einer in der Geschichte unseres Landes beispiellosen Welle der Solidarität geführt. Unsere Willkommenskultur hat Deutschland in der Welt viel Anerkennung und Sympathie gebracht. Tausende Helferinnen und Helfern leisten Bewundernswertes. Ihnen gilt unsere große Dankbarkeit.

Natürlich stellt eine so große Zahl von Geflüchteten innerhalb weniger Monate auch ein reiches Land wie Deutschland vor großen Herausforderungen. Längst nicht alles läuft perfekt. In den Bereichen Registrierung, Unterbringung und bei der Mammutaufgabe Integration ist noch viel zu tun. Nicht alle Menschen, die nach Deutschland kommen werden hier bleiben können. Und auf Dauer wird Deutschland eine ähnlich hohe Zahl an Flüchtlingen wie 2015 nicht erfolgreich integrieren können. Aber wir geben unser Bestes und gerade in Schleswig-Holstein kommen wir Schritt für Schritt voran. Wir machen das!

Leider ziehen nicht alle an einem Strang. Neben der Willkommenskultur gibt es deutlich zunehmende rechte Gewalt gegen Flüchtlinge. Das ist verachtenswert und eine Schande für unser Land. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit haben in unserem freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat keinen Platz! Dasselbe gilt für Parteien, die von den aktuellen Problemen profitieren wollen und Ängste schüren. Sie tragen Mitverantwortung dafür, dass Gewalt immer häufiger zum Ventil der von ihnen aufgeheizten politischen Lage wird.

Es ist die Zeit für entschlossenes politisches Handeln. Rechtspopulismus bringt keine Lösungen! Wir wissen: Internationale Probleme können nur international gelöst werden. Globale Ungleichheit und weltweite Krisen werden nicht durch die Schließung europäischer Grenzen beendet. Die Menschen werden weiter fliehen, wenn sich ihre Situation nicht verbessert. Deshalb gibt es keine einseitigen nationalen Lösungen. An den Außengrenzen der EU zeigt sich, dass eine Politik der Abschottung und Abschreckung die Werte unseres freiheitlichen und humanitären Europas verrät.

Die aktuelle Situation legt zwei Schwächen unserer Gesellschaft schonungslos offen:

  • Deutschland ist sozial gespalten. Prekäre Beschäftigung und die ökonomischen Krisen der letzten Jahre haben die Schere zwischen Arm und Reich weiter geöffnet. Das hat längst vor der Ankunft von einer Million Flüchtlinge für sozialen Sprengstoff gesorgt.
  • Der öffentliche Sektor wurde über die letzten Jahrzehnte nachhaltig geschwächt. Der anhaltende Sparkurs hat die staatliche Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Eine Mehrbelastung wie in der aktuellen Flüchtlingssituation darf nicht dazu führen, dass der Staat die Grenzen seiner Handlungsfähigkeit erreicht.

Beide Probleme hängen nicht ursächlich mit der Flüchtlingsbewegung zusammen. Sie beeinflussen aber unsere politische Antwort darauf. Es braucht jetzt massive Investitionen in den Bereichen Kinderbetreuung, Bildung, Polizei und Wohnungsbau.

II. Wir machen das. So gelingt Integration!

Deutschland steht vor einer doppelten Integrationsaufgabe: Auf der einen Seite müssen wir die Geflüchteten in unsere Gesellschaft und den Arbeitsmarkt integrieren. Auf der anderen Seite gilt es, das Land sozial zusammenzuhalten. Das Leben muss für alle Menschen spürbar besser werden. Für diejenigen, die aktuell zu uns fliehen, und für diejenigen, die hier schon länger leben, arbeiten und dieses Land aufgebaut haben. Wir müssen die Ängste der Menschen ansprechen und soziale Verteilungskämpfe verhindern.

Deutschland hat ein Gerechtigkeitsproblem. Die soziale Ungleichheit ist hier so groß wie in keinem anderen Land der Eurozone. Hinzu kommt ein öffentlicher Investitionsstau, der hunderte von Milliarden Euro umfasst. Durch die zusätzliche Belastung seit dem letzten Jahr spüren wir die Folgen der Einsparungen bei Bildung, Polizei und sozialer Sicherung noch deutlicher.

Wir müssen jetzt umdenken. Die Zeit des schlanken Staates ist vorbei! Es ist Zeit für einen Modernisierungsschub. Unser Ziel ist ein Jahrzehnt der Integration und Erneuerung.

Dafür brauchen wir eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Kommunen, um die folgenden Maßnahmen umzusetzen:

  • Verpflichtende Sprach- und Integrationskurse;
  • Abschaffung bestehender Barrieren beim Zugang zu Bildung und Arbeit;
  • Jährlich 400.000 neue bezahlbare Wohnungen;
  • Schaffung eines zweiten, öffentlichen Arbeitsmarktes – nicht nur für Flüchtlinge, sondern für alle Langzeitarbeitslosen in Deutschland;
  • Ein flächendeckendes Angebot von kostenfreien Kitas und Ganztagsschulen und die Stärkung des lebenslangen Lernens. Dafür muss das Kooperationsverbot im Bildungsbereich abgeschafft werden;
  • Sichere Bleibeperspektiven für alle, die in Deutschland eine Ausbildung absolvieren oder arbeiten;
  • Förderung und Stärkung von Gesellschaft, Vereinen, Verbänden und Einzelpersonen, die sich für Integration einsetzen.

Diese Maßnahmen müssen gerecht finanziert werden. Das heißt, dass die starken Schultern den größten Teil der Last tragen. Gleichzeitig gilt das Verursacherprinzip. Die Profiteure der neoliberalen Politik und der globalen Ungleichheit sind internationale Konzerne und die Besitzer großer Vermögen. Sie entziehen sich dem Solidarprinzip durch die Ausnutzung von Steuerschlupflöchern. Deshalb brauchen wir endlich bindende internationale Vereinbarungen über eine Finanztransaktionssteuer und die entschlossene Bekämpfung von Steuerkriminalität und Steuervermeidung.

Durch die doppelte Integrationsleistung wird Deutschland stärker und gerechter. Wir schließen die Schere zwischen Arm und Reich. Wir bekämpfen den Fachkräfte- und Wohnungsmangel und stärken unser Sozialsystem. Es geht nicht allein um eine Reaktion auf die Flüchtlingssituation, sondern weit darüber hinaus um eine Erneuung unserer Gesellschaft und einer Verbesserung des Lebens für alle Menschen!

III. Starke Gesellschaft – handlungsfähiger Staat!

Die Grundlage für diese historische Aufgabe ist eine starke Gesellschaft. Stark ist eine Gesellschaft nur dann, wenn der Staat handlungsfähig ist. Wenn zu seiner Finanzierung die starken Schultern mehr beitragen als die schwächeren. Kurzum: Stark sind wir nur dann, wenn es in Staat und Gesellschaft gerecht zugeht.

Ein handlungsfähiger Rechtsstaat ist die Antwort auf die zunehmende Unsicherheit in der Bevölkerung. An die Regeln unserer Gesellschaft muss sich jeder halten. Es gibt keine Ausnahme. Wer dagegen verstößt, wird bestraft. Bei uns gilt die Stärke des Rechts und nicht das Recht des Stärkeren. Orte, die Menschen aus Angst vor Verbrechen meiden, darf ein Rechtstaat nicht dulden. Es ist seine Pflicht, Angsträume wieder zu sicheren Orten der Begegnung zu machen!

Die Menschen wünschen sich mehr und besser ausgerüstete Polizistinnen und Polizisten. Deshalb hat die Landesregierung in Besoldung und Ausbildung investiert. Zudem wurden zusätzliche 400 Planstellen bei der Polizei geschaffen. In den nächsten sechs Jahren werden weitere 500 Stellen hinzukommen.

Diese Maßnahmen allein lösen das Problem der Unsicherheit nicht. Wir müssen die wirklichen Ursachen bekämpfen. Der Blick auf die polizeiliche Statistik zeigt: Reale Straftaten und das subjektive Sicherheitsempfinden stehen nicht unmittelbar in Zusammenhang. Absolut gesehen gibt es in Schleswig-Holstein weniger Straftaten als in der Vergangenheit. Trotzdem wachsen die Ängste.

Diese Ängste beinhalten die Furcht vor Verbrechen, eine zunehmende Angst vor sozialem Abstieg und die Sorge vor den wirtschaftlichen Folgen von Krankheit oder Arbeitslosigkeit. Mit Sparpolitik und „schlankem“ Staat wurde eine massive soziale Verunsicherung geschaffen.

Wahre Sicherheit bedeutet die Freiheit von Angst. Eine wirklich angstfreie Gesellschaft entsteht durch Integration und Perspektiven für alle Menschen. Sie entsteht aus der Gewissheit, dass für jeden gesorgt wird. Egal, ob man einen Unfall hat, die Arbeit verliert oder krank wird.

Ein Leben frei von Angst ist unser Ziel als Sozialdemokratie. Auf diesem Fundament wächst die Kraft der Solidarität. Sie bringt die Menschen zusammen und schafft die Basis für eine starke und mutige Gesellschaft.

Unsere Gerechtigkeitspolitik nimmt deshalb die Bekämpfung von sozialer Ungleichheit und Kriminalität immer gemeinsam in den Blick. Nur so halten wir die Gesellschaft zusammen!

IV. Fluchtursachen bekämpfen – Europa zusammenhalten!

Die Zahl der weltweiten Flüchtlinge kann nur durch die Bekämpfung der tatsächlichen Fluchtursachen verringert werden. Der Blick auf die Herkunftsländer zeigt, dass sie durch Krieg, Korruption, Massenarbeitslosigkeit und fehlende Bürgerrechte zerrüttet wurden. Staatliche, wirtschaftliche und soziale Strukturen sind weitgehend zerstört.

Fluchtursachen bekämpfen heißt deshalb: Die Kriege und Konflikte beenden. Vor Ort muss in Bildung, Gesundheit, Wohnen und Infrastruktur sowie die Bekämpfung des Klimawandels investiert werden. Es braucht Zukunftsperspektiven für junge Menschen, die zum Beispiel im arabischen Raum rund 70 Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Nötig ist dafür ein breites Bündnis von Weltbank, Internationalem Währungsfonds und Vereinten Nationen. Die Europäische Union und die Vereinigten Staaten sind aufgrund ihrer Wirtschaftskraft aufgerufen, sich bei der Bekämpfung der Fluchtursachen besonders einzubringen. Diese Ursachen sind kein unerklärliches Schicksal. Die Industrieländer haben einen maßgeblichen Anteil an der politischen und wirtschaftlichen Destabilisierung dieser Staaten.

Dazu müssen wir den Gedanken der Gemeinsamen Sicherheit wiederbeleben. Heute kann kein Staat die Sicherheit seiner Bevölkerung allein durch einseitiges Aufrüsten und die Schließung der Grenzen gewährleisten. Entweder wir schaffen gemeinsame und wirksame Regeln oder die Staatengemeinschaft fällt auseinander. Die Unsicherheit kann nur dadurch überwunden werden, dass alle Nationen übereinkommen, eine Gemeinsame Sicherheit zu schaffen, an der alle Staaten teilhaben können.

Die Sozialdemokratie arbeitet an diesen gemeinsamen Lösungen – in Europa und weltweit. Ziel unserer internationalen Politik ist es, Frieden zu schaffen und Gerechtigkeit herzustellen. Nur so lassen sich die aktuellen Fluchtursachen langfristig beseitigen. Abschreckung, Abschottung, Stacheldraht und Mauern lösen keine Probleme. Im Gegenteil sie schaffen ein humanitäres und moralisches Desaster.

Eine Schließung der innereuropäischen Grenze würde den Kontinent um Jahrzehnte zurückwerfen. Die politischen und ökonomischen Folgen sind unkalkulierbar. In letzter Konsequenz ist der Zusammenhalt Europas insgesamt gefährdet. Das dürfen wir nicht zulassen!

Die Europäische Union mit ihren 500 Millionen Einwohnern und der gewaltigen Wirtschaftskraft muss deutlich mehr leisten als bisher. Voraussetzung ist die Abschaffung der Dublin III Verordnung und die Entwicklung eines effektiven europäisches Verteilsystems für Flüchtlinge.

Zudem müssen wir sichere Fluchtwege nach Europa schaffen. Das gelingt durch die Übernahme großer Kontingente. Damit wird auch die Situation in den besonders betroffenen Regionen entspannt. Für alle Vereinbarungen mit der Türkei und anderen Verhandlungspartnern gilt, dass Europa sich nicht abschotten darf. Wir Sozialdemokraten setzten auf europäische Lösungen. Menschenrechte sind für uns nicht verhandelbar.

Wir rufen die internationale Staatengemeinschaft und die Bundesregierung dazu auf:

  • Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) sofort mit den finanziellen Mittel auszustatten, die notwendig sind, um die Flüchtlinge in der Türkei, Jordanien und im Libanon menschenwürdig unterzubringen und zu versorgen.
  • Waffenlieferungen in die Krisen- und Spannungsgebiete zu stoppen.
  • Alle diplomatischen Hebel in Bewegung zu setzen, um Frieden und Sicherheit in den Herkunftsländern zu schaffen.
  • Alle Kräfte auf den staatlichen, sozialen und wirtschaftlichen Wiederaufbau dieser Länder zu konzentrieren.
  • In Europa die Politik der Abschottung und Abschreckung von Geflüchteten zu beenden und ihnen durch eine faire Verteilung innerhalb der EU Schutz und Perspektiven zu bieten.
  • Das Ziel ist die einheitliche Unterbringung von Flüchtlingen mit Zugang zu sauberem Wasser und Nahrungsmitteln als Mindeststandard. Es muss ein europäischer Solidaritätsmechanismus in Zuständigkeit einer europäischen Asylbehörde für die Verteilung von Asylsuchenden geschaffen werden, der sowohl die Wirtschaftskraft der Aufnahmeländer berücksichtigt, als auch die Wünsche der Asylsuchenden nach Familienzusammenführung.