II 7: 9 Punkte zur Energiepolitik (1977)

Aus Beschlussdatenbank der SPD Schleswig-Holstein
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Gremium: Landesparteitag
Sitzung: Landesparteitag Tönning 1977
Bezeichnung: II 7
Antragsteller: Kreisverband Neumünster


Beschluss: Angenommen


(Veröffentlicht in: „Zur Sache“ Nr. 4, August 1977 - Herausgeber: SPD-Landesverband Schleswig-Holstein)


1. Wir befinden uns jetzt weltweit an einem Entwicklungspunkt, der die Menschheit zwingt, die natürlichen Grenzen und Möglichkeiten der Erde zu erkennen und einzuhalten und die verfügbaren Naturschätze und technischen Kräfte sparsamer zu verwalten und gerechter zu verteilen, als es in der Vergangenheit geschehen ist.


2. Viele Probleme, die dabei gelöst werden müssen, wurden und werden durch ein wirtschaftliches Denken und Handeln erzeugt, das immer noch überwiegend die Problemlösung in einer nur quantitativen Produktionsausweitung sucht und dabei die Interessen der kurzfristigen Kapitalverwertung in den Vordergrund rückt und oftmals nur egoistische Nationalinteressen verfolgt.

Diese Interessen stehen aber oft im Gegensatz zu

  • gesamtgesellschaftlicher Vernunft (volkswirtschaftliche Kostennutzungsrechnung);
  • nationaler und internationaler Gerechtigkeit und Solidarität;
  • den natürlichen und nicht beliebig vermehrbaren Lebensgrundlagen der Menschen;
  • humanen Arbeitsbedingungen;
  • den Grundsätzen der Lebensqualität;
  • den Grundwerten der Demokratie und Selbstbestimmung;
  • den Interessen zukünftiger Generationen.


3. In dieser Situation ist es die Aufgabe der demokratischen Sozialisten, durch eine breitangelegte und unvoreingenommene Diskussion in der Partei selbst und mit allen Bevölkerungskreisen Grundsätze und konkrete Alternativen zum bisherigen wirtschaftlichen Denken und Handeln zu entwickeln, um Wege aufzuzeigen, wie der weitere Industrialisierungsprozess und die Wirtschaftsabläufe zum Nutzen der Gesamtheit der Gesellschaft nach den Interessen der Mehrheit der abhängig Beschäftigten und der sozial Schwachen gestaltet und demokratisch kontrolliert werden können.


4. Technischer Fortschritt, weitere Industrialisierung und Wachstum dürfen nicht zum Selbstzweck werden. Wir müssen immer wieder fragen: Wem nützen sie, und welche Probleme und Gefahren bringen sie mit sich; auf wessen Kosten laufen sie ab?

Unsere Aufgabe ist es, die politischen Voraussetzungen und Interessen bestimmter Techniken und Industrialisierungskonzepte aufzuzeigen und der Bevölkerung zu verdeutlichen, dass es sich dabei nicht um Sachzwänge, sondern um politische Entscheidungen handelt, bei denen humanere und verantwortungsvollere Alternativen in der Vergangenheit eigentlich nie untersucht worden sind.

Daher fordern wir als Voraussetzung für die Einführung neuer Technologien die Entwicklung und Prüfung humanerer und verantwortungsvollerer Alternativen. Technik muss dem Menschen dienen, sie darf nicht eingesetzt werden, nur um höhere Gewinne zu erzielen und Arbeitsplätze einzusparen, sondern sie muss den Arbeitsplatz verbessern, die Arbeitszeit verkürzen und die Lebensqualität erhöhen. Der Mensch darf nicht Objekt der wissenschaftlichen und technischen Entscheidungen sein.


5. Wissenschaft und Forschung bekommen ihre Zielangaben vielfach nur von einseitigen wirtschaftlichen Interessen. Daher muss kritisch überprüft werden, von wem die jeweiligen Aufträge erteilt werden und wer über das Geld und die Macht verfügt, die Richtung der wissenschaftlichen Forschung an den staatlichen und privaten wissenschaftlichen Forschungs- und Lehreinrichtungen zu bestimmen, und die Ergebnisse und Gutachten aus Wissenschaft und Forschung müssen auf ihre Unabhängigkeit und Wertneutralität sorgfältiger analysiert werden. Wissenschaft und Forschung müssen in allen Bereichen der demokratisch-legitimierten Kontrolle unterstellt und demokratisch bestimmte Alternativforschungen systematisch entwickelt werden.


6. Die mit der bundesweiten Diskussion über den Bau von Kernkraftwerken entstandenen Schwierigkeiten sind ein deutliches Beispiel dafür, wie neue Technologien, ohne ausreichende technische und gedankliche Vorbereitungen, zu Unruhe, Verzweiflung und daraus resultierend, zur Gefährdung der demokratischen Grundordnung führen können.

Vielfach entstand der Eindruck, dass in leichtfertiger Weise eine technische Übergangslösung mit nicht überschaubaren Folgeproblemen gegen den Willen eines großen Teils der Bevölkerung durchgesetzt werden sollte, weil im Vordergrund der Argumentation die Grundsätze nur quantitativer Verbraucherzuwächse standen und keine politischen, technischen, wirtschaftlichen und allgemein verhaltensmäßigen Alternativen mit der Bevölkerung frühzeitig und umfassend diskutiert und auf ihre Verwirklichungschancen untersucht worden sind.


7. Wir fordern daher die SPD und die von ihr getragene Bundesregierung auf, so schnell wie möglich alternative Energie- und Wachstumsprogramme zu entwickeln, mit denen die sozialdemokratischen Ziele des sparsamen Verbrauchs und der weltweit gerechteren Verteilung von Energie und Rohstoffen bei gleichzeitiger Verbesserung der Lebensqualität verwirklicht werden können.

Diese Programme müssen von den zuständigen parlamentarischen Gremien entschieden werden, nachdem sie mit der Bevölkerung auf allen Ebenen diskutiert worden sind.


8. Der Entwicklungspunkt, an dem sich die Weltwirtschaft zurzeit befindet, macht es notwendig, in demokratischen Diskussionen und parlamentarischen Abstimmungen immer wieder die Ziele, Inhalte und Ergebnisse des wirtschaftlichen Denkens und Handelns zu überprüfen und nach besseren Kontrollmöglichkeiten und Zielbestimmungen zu suchen.

Das augenblickliche Wachstums- und Energieproblem hat seine Ursachen in jenem wirtschaftlichen Denken und Handeln, das überwiegend von Kapitalinteressen und den daraus resultierenden Bedürfnissen und Verhaltensweisen der Bevölkerung bestimmt ist. Daher muss der demokratische Sozialismus alternative Formen entwickeln, die die gegenwärtigen Probleme lösen und künftige aller Wahrscheinlichkeit nach vermeiden helfen, um die Voraussetzungen für eine humanere Zukunft zu schaffen.


9. Bei der Lösung dieser Aufgabe steht der demokratische Sozialismus vor der Schwierigkeit, dass große Teile der Bevölkerung und auch der SPD nahestehende Gruppen die Probleme noch nicht erkennen, weil sie unzureichend informiert sind. Trotz der grundlegenden Analysen im Godesberger Programm und im Orientierungsrahmen hat es die Öffentlichkeitsarbeit der SPD bisher nicht vermocht, diese Informationslücken zu schließen. Daher ist es den Vertretern von Kapitalinteressen immer wieder leichtgefallen, die Verhaltensweisen und die Bedürfnisse der Bevölkerung nach ihren eigenen Interessen auszurichten.

Bezeichnenderweise hat sich die SPD im letzten Bundestagswahlkampf von den reaktionären Kräften die Diskussion über die widersinnige Formel "Freiheit statt/oder Sozialismus" aufzwingen lassen.

Um ihr Ziel erreichen zu können, muss die SPD ihre Öffentlichkeitsarbeit auf allen Ebenen verstärken und neue Formen der demokratischen Beteiligung aller Bevölkerungskreise entwickeln, die den untrennbaren und lebensnotwendigen Zusammenhang von Sozialismus und Freiheit in der praktischen Arbeit zeigen und verwirklichen.