L1 Neu: Identität und Weg ins nächste Jahrzehnt Sozialdemokratie in Schleswig-Holstein (2010): Unterschied zwischen den Versionen

Aus Beschlussdatenbank der SPD Schleswig-Holstein
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''„In der Finanzkrise hat der Marktradikalismus seine Widerlegung überlebt, aber die Sehnsucht nach einer Alternative wächst in der Bevölkerung. Es gibt Umfragen, wonach drei Viertel der Deutschen der Meinung sind, es gehe bei uns ungerecht zu, und die Hälfte dieser drei Viertel ist der Meinung, das bleibe auch so, weil niemand das ändern wird. Einer der Gründe, warum wir die Wahl verloren haben, liegt darin, dass die Menschen gar nicht mehr glauben, dass es jemanden gibt, der dieses Land gerechter machen kann. Und genau da werden wir zu arbeiten haben. Wir werden die Alternative zu diesem marktradikalen Denken formulieren, propagieren und durchsetzen müssen. Wenn uns das gelingt, dann können die Zeitungen zehnmal schreiben, das sei ein Linksruck- wir sind dann genau in der Mitte unserer Gesellschaft. Noch nie in 60 Jahren hat dieses Land die Sozialdemokratie dringender gebraucht als heute!“ (Erhard Eppler, Dresden, 2009)''
'''Vorbemerkung: Die Abschnitte I. bis IV. dienen der Einführung, der Analyse und der Begründung für den Beschlussteil V.'''
===I. Unsere gemeinsame Herausforderung - Die Lage der SPD===
Die Wahlen vom 27.September 2009 waren für die Sozialdemokratie eine schwere Niederlage. Elf Regierungsjahre im Bund und eine 22jährige Regierungszeit in Schleswig-Holstein wurden mit diesen Wahlen beendet.
Die SPD kam bei der Bundestagswahl auf bundesweit 23% (-11,2%) und in Schleswig-Holstein auf 26,8% (-11,4%). Bei der Landtagswahl haben wir 25,4% erzielt (-13,2%) und damit im Vergleich zu 2005 148.664 Stimmen verloren.
Diese Wahlergebnisse sind für die SPD die schlechtesten aller Bundestags- und  Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und bedeuten eine Zäsur in der Geschichte der Sozialdemokratie. Gleichzeitig bildet der Wahltag dann den Tiefpunkt einer schon länger andauernden bundesweiten Entwicklung, die auch in anderen europäischen Ländern zu beobachten ist.
Die Sozialdemokratie hat in Deutschland seit 1998 viele Wahlen, zehn Millionen WählerInnen verloren, also die Hälfte ihrer Wählerschaft. Seither haben über 200.000 Mitglieder die Partei durch Austritt verlassen, davon rund 8000 in Schleswig-Holstein.
Die SPD steckt angesichts solcher gravierender Verluste in einer tiefen Krise. Wir stehen vor der immensen Herausforderung Kompetenz, Gestaltungskraft, Glaubwürdigkeit und vor allem das Vertrauen in die Sozialdemokratie für die Zukunft wieder herzustellen.
Die Gestaltung dieses für die Zukunft der Sozialdemokratie unabdingbaren Prozesses ist eine gemeinsame Herausforderung für alle Mitglieder der SPD. Nach der Wahl hat in den Ortsvereinen und Kreisverbänden des Landes eine intensive Debatte über die Zukunft der SPD begonnen. Alle  15 Kreisverbände und die Arbeitsgemeinschaften haben vor Ort mit dem Landesvorsitzenden intensiv diskutiert. Viele weitere Mitglieder haben die Diskussionsmöglichkeit auf den drei Mitglieder-Konferenzen genutzt, die auf Einladung des Landesvorstandes im November stattgefunden haben. Darüber hinaus gab es zahlreiche Diskussionsrunden in Ortsvereinen und Kreisverbänden, an denen auch Mitglieder des Landesvorstands teilgenommen haben.
Die Glaubwürdigkeit und der Stil der SPD in ihrem Regierungshandeln, Defizite bei der innerparteilichen Demokratie und die abnehmende gesellschaftliche Verankerung der SPD in Vereinen, Verbänden und Initiativen waren dabei die Dreh- und Angelpunkte der Diskussion. Offen und kontrovers wurden in allen Veranstaltungen inhaltliche Positionen, konkretes Regierungshandeln, programmatisches Profil, organisatorische Fragen und auch die Verant­wortung von Landesvorstand und Landesvorsitzendem diskutiert. Dabei gab es auch Forderungen nach einer personellen Trennung der Funktionen von Landesvorsitz und Landtagsfraktionsvorsitz.
Wir sind uns bewusst, dass wir erst am Anfang der Diskussion stehen. Mit diesem Antrag will die SPD Schleswig-Holstein eine Grundlage für die noch vor uns liegenden Debatten und die Arbeit an der Erneuerung der Sozialdemokratie formulieren und Orientierung geben.
Die SPD hat in ihrer Geschichte von Anfang an neben allen Errungenschaften und Erfolgen immer wieder große und teilweise katastrophale Krisen durchlebt. Wir stehen jetzt erneut vor der Aufgabe, neue Perspektiven für die Sozialdemokratie zu entwickeln. Die SPD war immer wieder fähig zu Aufbruch und großer historischer Initiative.
Der Antrag beinhaltet im Folgenden eine Kurzanalyse der Bundestagswahl und der Landtagswahl in Schleswig-Holstein (II.) und stellt die angesprochenen Themenkreise aus den bisherigen Diskussionen in der Mitgliedschaft vor (III.). Es folgt ein Kapitel zur Identität und Erneuerung der Sozialdemokratie (IV.), in dem es um eine zwingend notwendige Abgrenzung der Sozialdemokratie zum Wirtschaftsliberalismus und um einen Denkanstoß zur Erneuerung der sozialdemokratischen Bewegung geht. Um Zukunftsperspektiven und Erneuerung der Parteiarbeit geht es in Kapitel V. Hier wird ein Vorschlag zu künftigen Prioritäten und Rangfolgen unserer Parteiarbeit zur Diskussion gestellt und es werden konkrete Vorschläge gemacht für die inhaltliche Weiterentwicklung, zur innerparteilichen Demokratie, zur Mitgliederpartei in der Gesellschaft, zu organisatorischen Notwendigkeiten sowie zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit und zur Personalentwicklung.
Es geht um eine Zwischenbilanz der bisherigen innerparteilichen Diskussion in Schleswig-Holstein. Sie soll dazu einladen, mitzudiskutieren und mitzumachen. Sie ist die Basis für die folgenden Schritte und für unsere Arbeit als schlagkräftige Oppositionspartei gegen das schwarzgelbe Bündnis aus Konservativen und Egoisten und für die jetzt auch notwendige öffentliche Debatte. Dieser Parteitag bedeutet nicht das Ende der Diskussion, sondern ist ein wichtiger Teil eines Erneuerungsprozesses der SPD insgesamt und auch unseres Landesverbandes. Die Erkenntnisse dieser Diskussionen werden wir immer in unsere aktuelle politische Arbeit einzubeziehen haben.
In diesen Prozess wollen wir nach dem Parteitag auch die BürgerInnen, die Gewerkschaften, die Wirtschaft, die Sozial- und Umweltverbände, den Religionsgemeinschaften, die Wissenschaft, die Kulturschaffenden und möglichst viele Vereine, Verbände und Institutionen unseres Landes einbeziehen.
Im Herbst 2010 wird es einen Bundesparteitag geben auf dem weitere Schlussfolgerungen aus den Wahlniederlagen für die zukünftige Arbeit der SPD beraten werden. In Schleswig-Holstein werden wir vor diesem Parteitag einen Landesparteitag durchführen, der durch drei Mitglieder-Konferenzen vorbereitet werden soll und vielleicht auch auf dem Parteitag selber über Foren oder Arbeitsgruppen die stärkere Möglichkeit der Mitwirkung eröffnet.
Wir stehen gemeinsam vor Willy Brandts mahnendem Vermächtnis von 1992:
„Unsere Zeit steckt, wie kaum eine andere zuvor, voller Möglichkeiten – zum Guten und Bösen. Nichts kommt selbst und nur wenig ist von Dauer. Darum – besinnt euch auf eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“
Es liegt an uns, dies nicht nur zu zitieren, sondern auch aufzunehmen. In dem vor uns liegenden Prozess müssen wir die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung begreifen und Veränderungsnotwendigkeiten für die Zukunft definieren.
===II. Die Wahlniederlage vom 27. September 2009===
''(Die nachfolgenden Angaben beruhen auf den Wahlanalysen von infratest-dimap, Berlin)''
a) Die Bundestagswahl
Die Sozialdemokratie hat bei der Bundestagswahl und der Landtagswahl am 27. September 2009 eine verheerende Wahlniederlage erlitten. Bei der Bundestagswahl, bei der die Wahlbeteiligung um insgesamt 6,9 Prozentpunkte gesunken ist, hat die SPD mit 23% gegenüber 2005 6,2 Millionen WählerInnen verloren. In Schleswig-Holstein kam die SPD bei der Bundestagswahl auf 26,8% und erlitt, bei einer um 5,5 Prozentpunkte zurückgehenden Wahlbeteiligung, damit einen Verlust von 225.000 Stimmen. Die SPD hat mit bundesweit 2,1 Millionen WählerInnen am stärksten an die „NichtwählerInnen“ verloren. Der zweitgrößte Wählerstrom verläuft von der SPD zur Linkspartei (1,1 Millionen). Darüber hinaus wechselten netto jeweils etwa 870.000 ehemalige SPD-WählerInnen zu den Grünen, zu CDU und CSU sowie weitere 520.000 zur FDP.
Die SPD verliert in allen Alters- und Bevölkerungsgruppen. Besonders hoch fallen die Verluste bei JungwählerInnen (-20 Prozentpunkte) aus. Überdurchschnittliche Einbußen muss sie auch bei der klassisch sozialdemokratischen Klientel, den Arbeitern, Angestellten und Gewerkschaftsmitgliedern, hinnehmen. Ihre höchsten Stimmenanteile erreicht die SPD dennoch weiterhin bei gewerkschaftlich organisierten Arbeitern, wo sie die stärkste Kraft bleibt, sowie bei WählerInnen mit einfacher Schulbildung und Rentnern. Ihre niedrigsten Wähleranteile liegen dagegen bei Selbständigen und katholischen WählerInnen.
Die WählerInnen hatten zur Bundestagswahl vor allem drei inhaltliche Aspekte im Blick: Wirtschaft (39%), soziale Gerechtigkeit (34%) und Arbeitsmarkt (27%). Im Vergleich zu 2005 ist vor allem der Stellenwert der Bildung für die Wahlentscheidung gewachsen. Die SPD brachte ihre WählerInnen vor allem mit Gerechtigkeitsfragen (45%) an die Urnen. Die FDP punktete wie die CDU vor allem mit Wirtschaftsthemen. Die Linkspartei sprach ihre WählerInnen vorrangig mit sozialpolitischen Themen an. Die Grünen mobilisierten über ihre umweltpolitische Schwerpunktsetzung.
SSW-WählerInnen, die bei der Landtagswahl SSW gewählt haben, gingen nun auch vollständig zur Bundestagswahl und wählten dort in hohem Maße die SPD. Rechnet man diesen Faktor heraus, so ist der übliche Abstand zwischen Bundestagswahl und Landtagswahl bei getrennten Wahlgängen erkennbar.
In den Wahlumfragen beurteilten 59 Prozent die Situation in Deutschland als „ungerecht“. Hinsichtlich der Frage, ob eher Leistung oder Solidarität zählen solle, votierten für „Leistung“ 31 Prozent (-3 zu 2005), für „Solidarität“ 59 Prozent (+4 zu 2005). Bei den Unentschlossenen war das Verhältnis 23 zu 72 Prozent.
Bei den Kompetenzzuschreibungen hatte die SPD in erster Linie in den Feldern „Soziale Gerechtigkeit“ (44 Prozent zu 19 Prozent bei der Union) und „Für angemessene Löhne sorgen“ (43 zu 20) die Nase vorn. Die Union hatte klare Vorsprünge in den Bereichen „Kriminalität und Verbrechen bekämpfen“ (47 zu 20) sowie „Wirtschaft voranbringen“ (47 zu 21). Ebenso lag die Union im wichtigen Kompetenzfeld „Arbeitsplätze sichern und neue schaffen“ mit 37 zu 31 vorn; auch wenn die SPD hier gegenüber 2005 stark aufholen konnte. Doch nur 38 Prozent stimmten der Aussage zu, dass die SPD gute Ideen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze habe. 69 Prozent gaben an, man wisse bei der SPD nicht, was sie nach der Bundestagswahl vorhabe.
Der Glaubwürdigkeitsverlust in Sachen „soziale Gerechtigkeit“ ist der Dollpunkt für die starken Verluste in Richtung Nicht- und LinksparteiwählerInnen, die zugeschriebene Langeweile, „Spießigkeit“ und mangelnde Zukunftsorientierung erklärt Verluste an GRÜNE, gerade bei urbanen Milieus und bei Jungwählerinnen und Jungwählern. Verluste an schwarz-gelb mögen auch an dem Defizit einer realen Machtoption jenseits einer erneuten Juniorpartnerschaft innerhalb einer großen Koalition begründet sein.
b) Die Landtagswahl
Die Wahlbeteiligung ist in Schleswig-Holstein als Folge der Kopplung mit der Bundestagswahl deutlich gestiegen. Gegenüber der letzten Landtagswahl steigt die Beteiligung um 6,3 Prozentpunkte auf 72,8 Prozent. Die SPD büßt hier mit 25,4% im Vergleich zu 2005 148.664 Stimmen ein.
Die erstmalige Doppelwahl in der Geschichte des Landes war mit erheblichen Nachteilen für die SPD Schleswig-Holstein verbunden.
Die Verluste der SPD traten landesweit auf. Es gibt keinen Wahlkreis, in dem die SPD gegenüber 2005 nicht zweistellig verloren hat. Die größten Einbußen musste sie in Regionen mit hoher Einwohnerdichte hinnehmen, z.B. in Flensburg, Kiel-West  oder Lübeck-Süd. Regional sind die Verluste vor allem im Hamburger Umland sowie in der Stadt Kiel verortet.
Die SPD verliert an alle Parteien insgesamt 128.000 WählerInnen. Die Abwanderung erfolgt vor allem an die Grünen (-51.000) und die Linkspartei (-31.000). Die Einbußen durch Generationenwechsel (-19.000) und Ortswechsel früherer WählerInnen (-6.000) übersteigt die Zugewinne durch die Mobilisierung ehemaliger NichtwählerInnen (+8.000) deutlich. Interessant ist allerdings, dass es im Gegensatz zur Bundestagswahl zu einer Mobilisierung gekommen ist, was allerdings auch durch die gestiegene Wahlbeteiligung begünstigt wurde. Bemerkenswert ist ferner, dass die meisten WählerInnen an die Grünen verloren gingen und erst danach die Verluste an die Linkspartei folgen.
Die SPD-Einbußen betreffen alle Bevölkerungsgruppen, allerdings in unterschiedlicher Ausprägung. Sie verliert überdurchschnittlich bei 18- bis 24-Jährigen, 35- bis 44-Jährigen sowie Frauen. Darüber hinaus erleiden die Sozialdemokraten besonders hohe Verluste bei Personen mit mittlerer Schulbildung, Arbeitern und Angestellten, Personen in Ausbildung, Arbeitslosen, Gewerkschaftsmitgliedern sowie Konfessionslosen. Ihre besten Ergebnisse erzielen die Sozialdemokraten bei über 45-jährigen, Personen mit niedriger formaler Schulbildung sowie Gewerkschaftsmitgliedern. Dies scheint dem Bundestrend zu folgen.
Die Wählerinnen und Wähler hatten in Schleswig-Holstein vor allem zwei inhaltliche Aspekte im Blick: Wirtschaft (37 Prozent) und soziale Gerechtigkeit (29 Prozent). An dritter Stelle rangieren Arbeitsmarktpolitik sowie Schul- und Bildungspolitik, die jeweils für 24 Prozent der WählerInnen das wahlentscheidende Thema darstellten.
Die CDU mobilisierte ihre WählerInnen wie keine andere Partei mit wirtschaftspolitischen Themen (53 Prozent). Mit deutlichem Abstand folgen die Arbeitsmarktpolitik (23 Prozent), die Wirtschaftskrise (20 Prozent) sowie Bildung (17 Prozent).
Die SPD brachte ihre WählerInnen in erster Linie mit Gerechtigkeitsfragen (43 Prozent) an die Urne. An zweiter Stelle rangieren mit deutlichem Abstand Themen zum Arbeitsmarkt und zur Wirtschaftspolitik (beide 28 Prozent).
Eine Mehrheit der WählerInnen in Schleswig-Holstein (50%) ist der Meinung, dass die SPD die Partei ist, die sich am stärksten um den sozialen Ausgleich im Land bemüht.
Die FDP motivierte, wie die CDU, in erster Linie mit Wirtschaftsthemen (52 Prozent). Wie bei keiner anderen Partei spielte bei der Wahlentscheidung zugunsten der Liberalen das Thema Steuern eine bedeutende Rolle (24 Prozent). Mehr WählerInnen als 2005 konnte die FDP auch durch Gerechtigkeitsfragen motivieren (+8 Prozent).
Die Grünen überzeugten ihre WählerInnen vor allem durch ihre umweltpolitischen Angebote (62 Prozent). Darüber hinaus orientierten sich die Grünen-WählerInnen an Fragen des sozialen Ausgleichs (35 Prozent) sowie der Schul- und Bildungspolitik (30 Prozent).
Die Linkspartei sprach in Schleswig-Holstein die WählerInnen wie gehabt vor allem mit sozialpolitischen Themen an. Wie bei keiner anderen Wählerschaft war das Votum zugunsten der Linkspartei durch die Gerechtigkeitsfrage geprägt (56 Prozent). An zweiter Stelle folgen arbeitsmarktpolitische Überlegungen (33 Prozent).
Der SSW mobilisierte seine WählerInnen vor allem mit Fragen zur sozialen Gerechtigkeit (40 Prozent). An zweiter Stelle folgen Schul- und Bildungspolitik (36 Prozent).
Personelle Aspekte spielten bei den WählerInnen in Schleswig-Holstein insgesamt eine geringere Rolle als 2005. Dies gilt allerdings nicht für die Stimmabgabe zugunsten der Union. Wegen des Amtsinhabers Peter Harry Carstensen entschied sich fast jeder dritte CDU-WählerIn (2005 jeder sechste) für diese Partei. Damit war das Unions-Votum diesmal stärker personell geprägt als vor vier Jahren. Beim SPD-Votum spielten personelle Aspekte eine geringere Rolle. Orientierte sich 2005 fast jeder zweite SPD-Wählende an der damaligen SPD-Ministerpräsidentin Heide Simonis, war der SPD-Spitzenkandidat diesmal für ca. 20% der SPD-WählerInnen der ausschlaggebende Wahlgrund. An Bedeutung gewonnen hatten für die SPD-WählerInnen dagegen inhaltliche Überlegungen – sie waren für 49% ausschlaggebend für ihr Votum (+23%) - mehr noch als traditionelle Bindungen (-2%). Letztere motivierten diesmal jeden vierten SPD-WählerIn (26%) zur Wahl.
In der Frage, wen sich die WählerInnen als Ministerpräsidenten wünschten, konnte Ralf Stegner in dem kurzen Landtagswahlkampf deutlich aufholen. 44% der WählerInnen sprachen sich für Carstensen aus, 40% für Ralf Stegner. In einer Umfrage vor dem Wahlkampf hatte dieser Abstand zwischen beiden noch 51:19 betragen, also 32 Prozentpunkte.
Interessant ist, dass bei den beiden wichtigsten Themen Ralf Stegner im Profilvergleich der beiden Spitzenkandidaten vor Peter Harry Carstensen lag. In der Frage, wer über den größeren wirtschaftspolitischen Sachverstand verfügt führte Ralf Stegner mit 39:37 und bei der Frage, wer sich stärker für soziale Gerechtigkeit einsetzt, sogar mit 50:29.
===III. Die Lage aus der Sicht unserer Mitglieder===
Der Landesparteitag bedankt sich bei allen Mitgliedern, die sich nach der Wahl in den Ortsvereinen und Kreisverbänden und in den Veranstaltungen des Landesverbandes an der Diskussion und Aufarbeitung der Wahlniederlage beteiligt haben. Auch den Mitgliedern, die sich die Mühe gemacht haben, ihre Überlegungen schriftlich zu schicken, gilt unser Dank. Aufgrund der Vielzahl konnten nicht alle eingegangenen Zuschriften beantwortet werden konnten. Der Landesverband hat diese aufgenommen und viele der Diskussionsbeiträge in den Kreisverbänden und die Mitglieder-Konferenzen in Stichworten mitgeschrieben, diese dokumentiert und versucht, das ganze Meinungsspektrum wieder zu geben.
In den Diskussionen nach der Wahl und in den drei Mitgliederkonferenzen wurden vorrangig die folgenden zehn Themenkreise angesprochen:
# Durchgängig und überragend war die Kritik an der „Agenda 2010“, an Hartz IV und der „Rente 67“. Diese Beschlüsse der Bundesregierung unter sozialdemokratischer Führung bzw. Regierungsbeteiligung in der Großen Koalition hätten die Glaubwürdigkeit der SPD im Mark getroffen, wenn nicht gar zerstört. Unsere Kernkompetenz, die in dem Eintreten für soziale Gerechtigkeit besteht, werde von einer großen Anzahl von BürgerInnen in Zweifel gezogen. Insbesondere die negativen Folgen für auch für langjährig Beschäftigte, die Angst vor und in Teilen auch reale Gefahr von sozialem Abstieg und Altersarmut, der verstärkte Zwang zur Annahme von schlecht bezahlten (Mini-)Jobs und die zunehmend auseinanderklaffende Schere von arm und reich würden der SPD zugeschrieben.
# Die SPD habe auch ihre historischen Versprechen Aufstieg durch Bildung für alle, durch gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung, die eine Teilhabe an den Wohlstandsgewinnen garantierte, durch soziale Arbeitsschutz- und Arbeitsmarktgesetze, durch die Stärkung der Sozialsysteme für Gesundheit, Pflege und Rente für Sicherheit, Chancen und Aufstieg zu sorgen in den Jahren ihrer Regierungszeit nicht mehr glaubwürdig vertreten können. Hierdurch habe die SPD an die „Partei der Nichtwähler“ und an die Linkspartei in großem Umfang Stimmen verloren. In Bezug auf die Landespolitik gab es viel Kritik an einer im Grundsatz positiv gesehenen Schulpolitik bei deren konkreter Ausgestaltung vor Ort. Viele BürgerInnen in Schleswig-Holstein hätten zudem nicht an die finanzielle Umsetzbarkeit von drei gebührenfreien KiTa-Jahren geglaubt. Dafür habe es kein konkret vermittelbares Gegenfinanzierungsmodell gegeben.
# Massiv wurde in diesem Zusammenhang der Regierungsstil insbesondere unter Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem Parteivorsitzenden Franz Müntefering kritisiert. Agenda 2010, Rente mit 67 und die Bahnreform seien drei Beispiele dafür, wie die Regierungs-SPD mit Rücktrittsdrohungen und den Mitteln der Basta-Politik Beschlüsse durchgesetzt habe, die offenkundig keine Mehrheit in der Mitgliedschaft der SPD, bei deren Anhängern und in der Bevölkerung gefunden hätten.
# iele Mitglieder beurteilten die Beteiligung an den Großen Koalitionen im Bund und in Schleswig-Holstein in der Position des Juniorpartners äußerst kritisch und sahen hier eine wesentliche Ursache für die Wahlniederlage. Die SPD habe zwar wichtige und richtige Entscheidungen durchgesetzt, aber auch für die Mitgliedschaft und Wählerschaft der SPD schwer verdauliche Entscheidungen mittragen müssen. Die Feststellung im Leitantrag des Dresdner Bundesparteitages zur Beteiligung an der Großen Koalition („Es war richtig … 2005 die Möglichkeit zum Mitregieren in der Großen Koalition zu nutzen.“) wurde von vielen Mitgliedern in Zweifel gezogen. Das galt im Übrigen sowohl für die große Koalition in Berlin mit der Zuschreibung einer zu nachgiebigen SPD-Spitze und für die große Koalition in Kiel mit der Zuschreibung einer zu offensiven SPD-Führung.
# Bezogen auf die Landtagswahl in Schleswig-Holstein wurde in allen Veranstaltungen die Rolle des Spitzenkandidaten thematisiert. Auf Kritik stieß vor allem sein polarisierendes Agieren in der Großen Koalition. Andererseits wurde seine auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit zugespitzte thematische Positionierung breit unterstützt.
# Die häufigen Wechsel im Amt des Vorsitzenden der SPD und in den vergangenen zehn Jahren (Lafontaine, Schröder, Müntefering, Platzeck, Beck, Müntefering, Gabriel) und deren Umstände hätten zu einem starken Vertrauensverlust in die SPD und ihre Führung geführt. Dasselbe gelte in Schleswig-Holstein für die Umstände der Nichtwahl von Heide Simonis im Jahre 2005 und vorher die (ohne Gegenkandidaten erfolgte) Abwahl von Franz Thönnes als SPD-Landesvorsitzender. Es wurde kritisiert, dass beide Ereignisse nicht zu einer Aufarbeitung bzw. Überlegungen zu einer neuen Streitkultur geführt hätten. Der Umgang einiger Sozialdemokraten in Führungsverantwortung sei von außen betrachtet wenig Vertrauen erweckend und stoße damit neue WählerInnen und Mitglieder bzw. solche, die es werden könnten ab. Der Umgangsstil müsse die eigenen Werte der Sozialdemokratie erkennbar werden lassen.
# In allen Veranstaltungen zeigte sich, dass die Mitglieder der SPD deutlich mehr Beteiligung und Mitsprache verlangen als in der Vergangenheit. Die innerparteiliche Demokratie sei stark verbesserungswürdig. Eine vorrangige Aufgabe des Landesvorstandes bestehe darin, die Beteiligung und Mitsprache der Parteimitglieder an wichtigen Entscheidungen der Bundes- und der Landespartei zu verbessern und abzusichern. Notwendig seien qualitativ gute Informationsmöglichkeiten und Diskussionsforen, die eine Beteiligung der Mitglieder an der Willensbildung der Partei sicherstellten. Diese Beteiligung und Mitsprache dürfe nicht den Charakter von Alibiveranstaltungen haben, sondern müsse ernst gemeint sein und Folgen haben.
# Die Mitglieder der Partei problematisierten zudem die Schwächung der Organisationskraft der Partei. Dies bezog sich auf die geschwächte Präsenz der SPD vor Ort mit Büros und hauptamtlichen Mitarbeiter/innen (die durch die aktuelle Wahlniederlage noch schwieriger werde), die beschränkten finanziellen Möglichkeiten und die mangelnde Unterstützung für die Arbeit der Partei vor Ort. Infolge der Halbierung der Mitglieder der SPD seit 1990 sind die Beitragseinnahmen und anderer Einnahmen entsprechend zurückgegangen, weshalb der Landesverband seit dem Jahre 2000 rund 40% der hauptamtlichen Stellen in den Kreisgeschäftsstellen und in der Landesgeschäftsstelle streichen musste. Dort wird gegenwärtig mit einem Minimum der vertretbaren Personalausstattung gearbeitet. Aktuell verliert der Landesverband nach der verlorenen Wahl bis 2014 weitere rund 1 Million Euro an staatlichen Mitteln (Geldern aus dem innerparteilichen Bund/Länder-Finanzausgleich, Mandatsabgaben von Ministern, Bundestags- und Landtagsabgeordneten und weiter sinkenden Beitragseinnahmen) Aussichten, die eine Veränderung hier schwieriger machen.
# Es wurde berichtet, dass der Rückgang der Mitgliederzahlen und die Altersstruktur der Mitglieder die Existenz und Organisationsfähigkeit vieler Ortsvereine gefährde und zu einer Überlastung der in Partei und Kommunalpolitik aktiven Mitglieder führe. Zuviel Arbeit werde auf zu wenige Schultern gepackt. Andererseits wurde bemängelt, dass es neuen Mitgliedern häufig schwer gemacht werde, in der SPD Fuß zu fassen. Jüngere Mitglieder bekämen einerseits zu wenig Chancen und Verantwortung, andererseits fehlten Angebote inhaltlicher Fundierung sozialdemokratischer Arbeit. Teilweise sei auch die Arbeitsweise der SPD altmodisch und für Junge nicht alternativ. Um mehr Frauen für die Arbeit in der SPD zu gewinnen, bedürfe es weniger zeitaufwendiger Routinen, flacherer Hierarchien und einer insgesamt lebensnäheren Diskussionskultur.
# In den Diskussionen wurde festgestellt, dass die frühere starke Verankerung der SPD in Gewerkschaften, Sozialverbänden und vielen anderen Vereinen, Verbänden und Initiativen in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter zurückgegangen sei. Dies gelte für alle Ebenen der Partei –Bundespartei, Landespartei, Kreisverbände, Ortsvereine. Dadurch seien der SPD viele Kontakte, kritische Antennen und Anregungen von außen –also die Seismographen für gesellschaftspolitische Entwicklungen- verloren gegangen.
===IV. Gefährdete Identität der Sozialdemokratie===

Version vom 19. April 2013, 13:28 Uhr

Gremium: Landesparteitag
Sitzung: Landesparteitag Neumünster 2010
Bezeichnung: Leitantrag L1 Neu
Antragsteller: Landesvorstand


Beschluss: Angenommen


„In der Finanzkrise hat der Marktradikalismus seine Widerlegung überlebt, aber die Sehnsucht nach einer Alternative wächst in der Bevölkerung. Es gibt Umfragen, wonach drei Viertel der Deutschen der Meinung sind, es gehe bei uns ungerecht zu, und die Hälfte dieser drei Viertel ist der Meinung, das bleibe auch so, weil niemand das ändern wird. Einer der Gründe, warum wir die Wahl verloren haben, liegt darin, dass die Menschen gar nicht mehr glauben, dass es jemanden gibt, der dieses Land gerechter machen kann. Und genau da werden wir zu arbeiten haben. Wir werden die Alternative zu diesem marktradikalen Denken formulieren, propagieren und durchsetzen müssen. Wenn uns das gelingt, dann können die Zeitungen zehnmal schreiben, das sei ein Linksruck- wir sind dann genau in der Mitte unserer Gesellschaft. Noch nie in 60 Jahren hat dieses Land die Sozialdemokratie dringender gebraucht als heute!“ (Erhard Eppler, Dresden, 2009)


Vorbemerkung: Die Abschnitte I. bis IV. dienen der Einführung, der Analyse und der Begründung für den Beschlussteil V.


I. Unsere gemeinsame Herausforderung - Die Lage der SPD

Die Wahlen vom 27.September 2009 waren für die Sozialdemokratie eine schwere Niederlage. Elf Regierungsjahre im Bund und eine 22jährige Regierungszeit in Schleswig-Holstein wurden mit diesen Wahlen beendet.

Die SPD kam bei der Bundestagswahl auf bundesweit 23% (-11,2%) und in Schleswig-Holstein auf 26,8% (-11,4%). Bei der Landtagswahl haben wir 25,4% erzielt (-13,2%) und damit im Vergleich zu 2005 148.664 Stimmen verloren.

Diese Wahlergebnisse sind für die SPD die schlechtesten aller Bundestags- und Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und bedeuten eine Zäsur in der Geschichte der Sozialdemokratie. Gleichzeitig bildet der Wahltag dann den Tiefpunkt einer schon länger andauernden bundesweiten Entwicklung, die auch in anderen europäischen Ländern zu beobachten ist.

Die Sozialdemokratie hat in Deutschland seit 1998 viele Wahlen, zehn Millionen WählerInnen verloren, also die Hälfte ihrer Wählerschaft. Seither haben über 200.000 Mitglieder die Partei durch Austritt verlassen, davon rund 8000 in Schleswig-Holstein.

Die SPD steckt angesichts solcher gravierender Verluste in einer tiefen Krise. Wir stehen vor der immensen Herausforderung Kompetenz, Gestaltungskraft, Glaubwürdigkeit und vor allem das Vertrauen in die Sozialdemokratie für die Zukunft wieder herzustellen.

Die Gestaltung dieses für die Zukunft der Sozialdemokratie unabdingbaren Prozesses ist eine gemeinsame Herausforderung für alle Mitglieder der SPD. Nach der Wahl hat in den Ortsvereinen und Kreisverbänden des Landes eine intensive Debatte über die Zukunft der SPD begonnen. Alle 15 Kreisverbände und die Arbeitsgemeinschaften haben vor Ort mit dem Landesvorsitzenden intensiv diskutiert. Viele weitere Mitglieder haben die Diskussionsmöglichkeit auf den drei Mitglieder-Konferenzen genutzt, die auf Einladung des Landesvorstandes im November stattgefunden haben. Darüber hinaus gab es zahlreiche Diskussionsrunden in Ortsvereinen und Kreisverbänden, an denen auch Mitglieder des Landesvorstands teilgenommen haben.

Die Glaubwürdigkeit und der Stil der SPD in ihrem Regierungshandeln, Defizite bei der innerparteilichen Demokratie und die abnehmende gesellschaftliche Verankerung der SPD in Vereinen, Verbänden und Initiativen waren dabei die Dreh- und Angelpunkte der Diskussion. Offen und kontrovers wurden in allen Veranstaltungen inhaltliche Positionen, konkretes Regierungshandeln, programmatisches Profil, organisatorische Fragen und auch die Verant­wortung von Landesvorstand und Landesvorsitzendem diskutiert. Dabei gab es auch Forderungen nach einer personellen Trennung der Funktionen von Landesvorsitz und Landtagsfraktionsvorsitz.

Wir sind uns bewusst, dass wir erst am Anfang der Diskussion stehen. Mit diesem Antrag will die SPD Schleswig-Holstein eine Grundlage für die noch vor uns liegenden Debatten und die Arbeit an der Erneuerung der Sozialdemokratie formulieren und Orientierung geben.

Die SPD hat in ihrer Geschichte von Anfang an neben allen Errungenschaften und Erfolgen immer wieder große und teilweise katastrophale Krisen durchlebt. Wir stehen jetzt erneut vor der Aufgabe, neue Perspektiven für die Sozialdemokratie zu entwickeln. Die SPD war immer wieder fähig zu Aufbruch und großer historischer Initiative.

Der Antrag beinhaltet im Folgenden eine Kurzanalyse der Bundestagswahl und der Landtagswahl in Schleswig-Holstein (II.) und stellt die angesprochenen Themenkreise aus den bisherigen Diskussionen in der Mitgliedschaft vor (III.). Es folgt ein Kapitel zur Identität und Erneuerung der Sozialdemokratie (IV.), in dem es um eine zwingend notwendige Abgrenzung der Sozialdemokratie zum Wirtschaftsliberalismus und um einen Denkanstoß zur Erneuerung der sozialdemokratischen Bewegung geht. Um Zukunftsperspektiven und Erneuerung der Parteiarbeit geht es in Kapitel V. Hier wird ein Vorschlag zu künftigen Prioritäten und Rangfolgen unserer Parteiarbeit zur Diskussion gestellt und es werden konkrete Vorschläge gemacht für die inhaltliche Weiterentwicklung, zur innerparteilichen Demokratie, zur Mitgliederpartei in der Gesellschaft, zu organisatorischen Notwendigkeiten sowie zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit und zur Personalentwicklung.

Es geht um eine Zwischenbilanz der bisherigen innerparteilichen Diskussion in Schleswig-Holstein. Sie soll dazu einladen, mitzudiskutieren und mitzumachen. Sie ist die Basis für die folgenden Schritte und für unsere Arbeit als schlagkräftige Oppositionspartei gegen das schwarzgelbe Bündnis aus Konservativen und Egoisten und für die jetzt auch notwendige öffentliche Debatte. Dieser Parteitag bedeutet nicht das Ende der Diskussion, sondern ist ein wichtiger Teil eines Erneuerungsprozesses der SPD insgesamt und auch unseres Landesverbandes. Die Erkenntnisse dieser Diskussionen werden wir immer in unsere aktuelle politische Arbeit einzubeziehen haben.

In diesen Prozess wollen wir nach dem Parteitag auch die BürgerInnen, die Gewerkschaften, die Wirtschaft, die Sozial- und Umweltverbände, den Religionsgemeinschaften, die Wissenschaft, die Kulturschaffenden und möglichst viele Vereine, Verbände und Institutionen unseres Landes einbeziehen.

Im Herbst 2010 wird es einen Bundesparteitag geben auf dem weitere Schlussfolgerungen aus den Wahlniederlagen für die zukünftige Arbeit der SPD beraten werden. In Schleswig-Holstein werden wir vor diesem Parteitag einen Landesparteitag durchführen, der durch drei Mitglieder-Konferenzen vorbereitet werden soll und vielleicht auch auf dem Parteitag selber über Foren oder Arbeitsgruppen die stärkere Möglichkeit der Mitwirkung eröffnet.

Wir stehen gemeinsam vor Willy Brandts mahnendem Vermächtnis von 1992: „Unsere Zeit steckt, wie kaum eine andere zuvor, voller Möglichkeiten – zum Guten und Bösen. Nichts kommt selbst und nur wenig ist von Dauer. Darum – besinnt euch auf eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“

Es liegt an uns, dies nicht nur zu zitieren, sondern auch aufzunehmen. In dem vor uns liegenden Prozess müssen wir die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung begreifen und Veränderungsnotwendigkeiten für die Zukunft definieren.


II. Die Wahlniederlage vom 27. September 2009

(Die nachfolgenden Angaben beruhen auf den Wahlanalysen von infratest-dimap, Berlin)

a) Die Bundestagswahl

Die Sozialdemokratie hat bei der Bundestagswahl und der Landtagswahl am 27. September 2009 eine verheerende Wahlniederlage erlitten. Bei der Bundestagswahl, bei der die Wahlbeteiligung um insgesamt 6,9 Prozentpunkte gesunken ist, hat die SPD mit 23% gegenüber 2005 6,2 Millionen WählerInnen verloren. In Schleswig-Holstein kam die SPD bei der Bundestagswahl auf 26,8% und erlitt, bei einer um 5,5 Prozentpunkte zurückgehenden Wahlbeteiligung, damit einen Verlust von 225.000 Stimmen. Die SPD hat mit bundesweit 2,1 Millionen WählerInnen am stärksten an die „NichtwählerInnen“ verloren. Der zweitgrößte Wählerstrom verläuft von der SPD zur Linkspartei (1,1 Millionen). Darüber hinaus wechselten netto jeweils etwa 870.000 ehemalige SPD-WählerInnen zu den Grünen, zu CDU und CSU sowie weitere 520.000 zur FDP.

Die SPD verliert in allen Alters- und Bevölkerungsgruppen. Besonders hoch fallen die Verluste bei JungwählerInnen (-20 Prozentpunkte) aus. Überdurchschnittliche Einbußen muss sie auch bei der klassisch sozialdemokratischen Klientel, den Arbeitern, Angestellten und Gewerkschaftsmitgliedern, hinnehmen. Ihre höchsten Stimmenanteile erreicht die SPD dennoch weiterhin bei gewerkschaftlich organisierten Arbeitern, wo sie die stärkste Kraft bleibt, sowie bei WählerInnen mit einfacher Schulbildung und Rentnern. Ihre niedrigsten Wähleranteile liegen dagegen bei Selbständigen und katholischen WählerInnen.

Die WählerInnen hatten zur Bundestagswahl vor allem drei inhaltliche Aspekte im Blick: Wirtschaft (39%), soziale Gerechtigkeit (34%) und Arbeitsmarkt (27%). Im Vergleich zu 2005 ist vor allem der Stellenwert der Bildung für die Wahlentscheidung gewachsen. Die SPD brachte ihre WählerInnen vor allem mit Gerechtigkeitsfragen (45%) an die Urnen. Die FDP punktete wie die CDU vor allem mit Wirtschaftsthemen. Die Linkspartei sprach ihre WählerInnen vorrangig mit sozialpolitischen Themen an. Die Grünen mobilisierten über ihre umweltpolitische Schwerpunktsetzung.

SSW-WählerInnen, die bei der Landtagswahl SSW gewählt haben, gingen nun auch vollständig zur Bundestagswahl und wählten dort in hohem Maße die SPD. Rechnet man diesen Faktor heraus, so ist der übliche Abstand zwischen Bundestagswahl und Landtagswahl bei getrennten Wahlgängen erkennbar.

In den Wahlumfragen beurteilten 59 Prozent die Situation in Deutschland als „ungerecht“. Hinsichtlich der Frage, ob eher Leistung oder Solidarität zählen solle, votierten für „Leistung“ 31 Prozent (-3 zu 2005), für „Solidarität“ 59 Prozent (+4 zu 2005). Bei den Unentschlossenen war das Verhältnis 23 zu 72 Prozent.

Bei den Kompetenzzuschreibungen hatte die SPD in erster Linie in den Feldern „Soziale Gerechtigkeit“ (44 Prozent zu 19 Prozent bei der Union) und „Für angemessene Löhne sorgen“ (43 zu 20) die Nase vorn. Die Union hatte klare Vorsprünge in den Bereichen „Kriminalität und Verbrechen bekämpfen“ (47 zu 20) sowie „Wirtschaft voranbringen“ (47 zu 21). Ebenso lag die Union im wichtigen Kompetenzfeld „Arbeitsplätze sichern und neue schaffen“ mit 37 zu 31 vorn; auch wenn die SPD hier gegenüber 2005 stark aufholen konnte. Doch nur 38 Prozent stimmten der Aussage zu, dass die SPD gute Ideen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze habe. 69 Prozent gaben an, man wisse bei der SPD nicht, was sie nach der Bundestagswahl vorhabe.

Der Glaubwürdigkeitsverlust in Sachen „soziale Gerechtigkeit“ ist der Dollpunkt für die starken Verluste in Richtung Nicht- und LinksparteiwählerInnen, die zugeschriebene Langeweile, „Spießigkeit“ und mangelnde Zukunftsorientierung erklärt Verluste an GRÜNE, gerade bei urbanen Milieus und bei Jungwählerinnen und Jungwählern. Verluste an schwarz-gelb mögen auch an dem Defizit einer realen Machtoption jenseits einer erneuten Juniorpartnerschaft innerhalb einer großen Koalition begründet sein.

b) Die Landtagswahl

Die Wahlbeteiligung ist in Schleswig-Holstein als Folge der Kopplung mit der Bundestagswahl deutlich gestiegen. Gegenüber der letzten Landtagswahl steigt die Beteiligung um 6,3 Prozentpunkte auf 72,8 Prozent. Die SPD büßt hier mit 25,4% im Vergleich zu 2005 148.664 Stimmen ein. Die erstmalige Doppelwahl in der Geschichte des Landes war mit erheblichen Nachteilen für die SPD Schleswig-Holstein verbunden.

Die Verluste der SPD traten landesweit auf. Es gibt keinen Wahlkreis, in dem die SPD gegenüber 2005 nicht zweistellig verloren hat. Die größten Einbußen musste sie in Regionen mit hoher Einwohnerdichte hinnehmen, z.B. in Flensburg, Kiel-West oder Lübeck-Süd. Regional sind die Verluste vor allem im Hamburger Umland sowie in der Stadt Kiel verortet.

Die SPD verliert an alle Parteien insgesamt 128.000 WählerInnen. Die Abwanderung erfolgt vor allem an die Grünen (-51.000) und die Linkspartei (-31.000). Die Einbußen durch Generationenwechsel (-19.000) und Ortswechsel früherer WählerInnen (-6.000) übersteigt die Zugewinne durch die Mobilisierung ehemaliger NichtwählerInnen (+8.000) deutlich. Interessant ist allerdings, dass es im Gegensatz zur Bundestagswahl zu einer Mobilisierung gekommen ist, was allerdings auch durch die gestiegene Wahlbeteiligung begünstigt wurde. Bemerkenswert ist ferner, dass die meisten WählerInnen an die Grünen verloren gingen und erst danach die Verluste an die Linkspartei folgen.

Die SPD-Einbußen betreffen alle Bevölkerungsgruppen, allerdings in unterschiedlicher Ausprägung. Sie verliert überdurchschnittlich bei 18- bis 24-Jährigen, 35- bis 44-Jährigen sowie Frauen. Darüber hinaus erleiden die Sozialdemokraten besonders hohe Verluste bei Personen mit mittlerer Schulbildung, Arbeitern und Angestellten, Personen in Ausbildung, Arbeitslosen, Gewerkschaftsmitgliedern sowie Konfessionslosen. Ihre besten Ergebnisse erzielen die Sozialdemokraten bei über 45-jährigen, Personen mit niedriger formaler Schulbildung sowie Gewerkschaftsmitgliedern. Dies scheint dem Bundestrend zu folgen.

Die Wählerinnen und Wähler hatten in Schleswig-Holstein vor allem zwei inhaltliche Aspekte im Blick: Wirtschaft (37 Prozent) und soziale Gerechtigkeit (29 Prozent). An dritter Stelle rangieren Arbeitsmarktpolitik sowie Schul- und Bildungspolitik, die jeweils für 24 Prozent der WählerInnen das wahlentscheidende Thema darstellten. Die CDU mobilisierte ihre WählerInnen wie keine andere Partei mit wirtschaftspolitischen Themen (53 Prozent). Mit deutlichem Abstand folgen die Arbeitsmarktpolitik (23 Prozent), die Wirtschaftskrise (20 Prozent) sowie Bildung (17 Prozent).

Die SPD brachte ihre WählerInnen in erster Linie mit Gerechtigkeitsfragen (43 Prozent) an die Urne. An zweiter Stelle rangieren mit deutlichem Abstand Themen zum Arbeitsmarkt und zur Wirtschaftspolitik (beide 28 Prozent).

Eine Mehrheit der WählerInnen in Schleswig-Holstein (50%) ist der Meinung, dass die SPD die Partei ist, die sich am stärksten um den sozialen Ausgleich im Land bemüht.

Die FDP motivierte, wie die CDU, in erster Linie mit Wirtschaftsthemen (52 Prozent). Wie bei keiner anderen Partei spielte bei der Wahlentscheidung zugunsten der Liberalen das Thema Steuern eine bedeutende Rolle (24 Prozent). Mehr WählerInnen als 2005 konnte die FDP auch durch Gerechtigkeitsfragen motivieren (+8 Prozent). Die Grünen überzeugten ihre WählerInnen vor allem durch ihre umweltpolitischen Angebote (62 Prozent). Darüber hinaus orientierten sich die Grünen-WählerInnen an Fragen des sozialen Ausgleichs (35 Prozent) sowie der Schul- und Bildungspolitik (30 Prozent).

Die Linkspartei sprach in Schleswig-Holstein die WählerInnen wie gehabt vor allem mit sozialpolitischen Themen an. Wie bei keiner anderen Wählerschaft war das Votum zugunsten der Linkspartei durch die Gerechtigkeitsfrage geprägt (56 Prozent). An zweiter Stelle folgen arbeitsmarktpolitische Überlegungen (33 Prozent). Der SSW mobilisierte seine WählerInnen vor allem mit Fragen zur sozialen Gerechtigkeit (40 Prozent). An zweiter Stelle folgen Schul- und Bildungspolitik (36 Prozent).

Personelle Aspekte spielten bei den WählerInnen in Schleswig-Holstein insgesamt eine geringere Rolle als 2005. Dies gilt allerdings nicht für die Stimmabgabe zugunsten der Union. Wegen des Amtsinhabers Peter Harry Carstensen entschied sich fast jeder dritte CDU-WählerIn (2005 jeder sechste) für diese Partei. Damit war das Unions-Votum diesmal stärker personell geprägt als vor vier Jahren. Beim SPD-Votum spielten personelle Aspekte eine geringere Rolle. Orientierte sich 2005 fast jeder zweite SPD-Wählende an der damaligen SPD-Ministerpräsidentin Heide Simonis, war der SPD-Spitzenkandidat diesmal für ca. 20% der SPD-WählerInnen der ausschlaggebende Wahlgrund. An Bedeutung gewonnen hatten für die SPD-WählerInnen dagegen inhaltliche Überlegungen – sie waren für 49% ausschlaggebend für ihr Votum (+23%) - mehr noch als traditionelle Bindungen (-2%). Letztere motivierten diesmal jeden vierten SPD-WählerIn (26%) zur Wahl.

In der Frage, wen sich die WählerInnen als Ministerpräsidenten wünschten, konnte Ralf Stegner in dem kurzen Landtagswahlkampf deutlich aufholen. 44% der WählerInnen sprachen sich für Carstensen aus, 40% für Ralf Stegner. In einer Umfrage vor dem Wahlkampf hatte dieser Abstand zwischen beiden noch 51:19 betragen, also 32 Prozentpunkte.

Interessant ist, dass bei den beiden wichtigsten Themen Ralf Stegner im Profilvergleich der beiden Spitzenkandidaten vor Peter Harry Carstensen lag. In der Frage, wer über den größeren wirtschaftspolitischen Sachverstand verfügt führte Ralf Stegner mit 39:37 und bei der Frage, wer sich stärker für soziale Gerechtigkeit einsetzt, sogar mit 50:29.


III. Die Lage aus der Sicht unserer Mitglieder

Der Landesparteitag bedankt sich bei allen Mitgliedern, die sich nach der Wahl in den Ortsvereinen und Kreisverbänden und in den Veranstaltungen des Landesverbandes an der Diskussion und Aufarbeitung der Wahlniederlage beteiligt haben. Auch den Mitgliedern, die sich die Mühe gemacht haben, ihre Überlegungen schriftlich zu schicken, gilt unser Dank. Aufgrund der Vielzahl konnten nicht alle eingegangenen Zuschriften beantwortet werden konnten. Der Landesverband hat diese aufgenommen und viele der Diskussionsbeiträge in den Kreisverbänden und die Mitglieder-Konferenzen in Stichworten mitgeschrieben, diese dokumentiert und versucht, das ganze Meinungsspektrum wieder zu geben.

In den Diskussionen nach der Wahl und in den drei Mitgliederkonferenzen wurden vorrangig die folgenden zehn Themenkreise angesprochen:

  1. Durchgängig und überragend war die Kritik an der „Agenda 2010“, an Hartz IV und der „Rente 67“. Diese Beschlüsse der Bundesregierung unter sozialdemokratischer Führung bzw. Regierungsbeteiligung in der Großen Koalition hätten die Glaubwürdigkeit der SPD im Mark getroffen, wenn nicht gar zerstört. Unsere Kernkompetenz, die in dem Eintreten für soziale Gerechtigkeit besteht, werde von einer großen Anzahl von BürgerInnen in Zweifel gezogen. Insbesondere die negativen Folgen für auch für langjährig Beschäftigte, die Angst vor und in Teilen auch reale Gefahr von sozialem Abstieg und Altersarmut, der verstärkte Zwang zur Annahme von schlecht bezahlten (Mini-)Jobs und die zunehmend auseinanderklaffende Schere von arm und reich würden der SPD zugeschrieben.
  2. Die SPD habe auch ihre historischen Versprechen Aufstieg durch Bildung für alle, durch gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung, die eine Teilhabe an den Wohlstandsgewinnen garantierte, durch soziale Arbeitsschutz- und Arbeitsmarktgesetze, durch die Stärkung der Sozialsysteme für Gesundheit, Pflege und Rente für Sicherheit, Chancen und Aufstieg zu sorgen in den Jahren ihrer Regierungszeit nicht mehr glaubwürdig vertreten können. Hierdurch habe die SPD an die „Partei der Nichtwähler“ und an die Linkspartei in großem Umfang Stimmen verloren. In Bezug auf die Landespolitik gab es viel Kritik an einer im Grundsatz positiv gesehenen Schulpolitik bei deren konkreter Ausgestaltung vor Ort. Viele BürgerInnen in Schleswig-Holstein hätten zudem nicht an die finanzielle Umsetzbarkeit von drei gebührenfreien KiTa-Jahren geglaubt. Dafür habe es kein konkret vermittelbares Gegenfinanzierungsmodell gegeben.
  3. Massiv wurde in diesem Zusammenhang der Regierungsstil insbesondere unter Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem Parteivorsitzenden Franz Müntefering kritisiert. Agenda 2010, Rente mit 67 und die Bahnreform seien drei Beispiele dafür, wie die Regierungs-SPD mit Rücktrittsdrohungen und den Mitteln der Basta-Politik Beschlüsse durchgesetzt habe, die offenkundig keine Mehrheit in der Mitgliedschaft der SPD, bei deren Anhängern und in der Bevölkerung gefunden hätten.
  4. iele Mitglieder beurteilten die Beteiligung an den Großen Koalitionen im Bund und in Schleswig-Holstein in der Position des Juniorpartners äußerst kritisch und sahen hier eine wesentliche Ursache für die Wahlniederlage. Die SPD habe zwar wichtige und richtige Entscheidungen durchgesetzt, aber auch für die Mitgliedschaft und Wählerschaft der SPD schwer verdauliche Entscheidungen mittragen müssen. Die Feststellung im Leitantrag des Dresdner Bundesparteitages zur Beteiligung an der Großen Koalition („Es war richtig … 2005 die Möglichkeit zum Mitregieren in der Großen Koalition zu nutzen.“) wurde von vielen Mitgliedern in Zweifel gezogen. Das galt im Übrigen sowohl für die große Koalition in Berlin mit der Zuschreibung einer zu nachgiebigen SPD-Spitze und für die große Koalition in Kiel mit der Zuschreibung einer zu offensiven SPD-Führung.
  5. Bezogen auf die Landtagswahl in Schleswig-Holstein wurde in allen Veranstaltungen die Rolle des Spitzenkandidaten thematisiert. Auf Kritik stieß vor allem sein polarisierendes Agieren in der Großen Koalition. Andererseits wurde seine auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit zugespitzte thematische Positionierung breit unterstützt.
  6. Die häufigen Wechsel im Amt des Vorsitzenden der SPD und in den vergangenen zehn Jahren (Lafontaine, Schröder, Müntefering, Platzeck, Beck, Müntefering, Gabriel) und deren Umstände hätten zu einem starken Vertrauensverlust in die SPD und ihre Führung geführt. Dasselbe gelte in Schleswig-Holstein für die Umstände der Nichtwahl von Heide Simonis im Jahre 2005 und vorher die (ohne Gegenkandidaten erfolgte) Abwahl von Franz Thönnes als SPD-Landesvorsitzender. Es wurde kritisiert, dass beide Ereignisse nicht zu einer Aufarbeitung bzw. Überlegungen zu einer neuen Streitkultur geführt hätten. Der Umgang einiger Sozialdemokraten in Führungsverantwortung sei von außen betrachtet wenig Vertrauen erweckend und stoße damit neue WählerInnen und Mitglieder bzw. solche, die es werden könnten ab. Der Umgangsstil müsse die eigenen Werte der Sozialdemokratie erkennbar werden lassen.
  7. In allen Veranstaltungen zeigte sich, dass die Mitglieder der SPD deutlich mehr Beteiligung und Mitsprache verlangen als in der Vergangenheit. Die innerparteiliche Demokratie sei stark verbesserungswürdig. Eine vorrangige Aufgabe des Landesvorstandes bestehe darin, die Beteiligung und Mitsprache der Parteimitglieder an wichtigen Entscheidungen der Bundes- und der Landespartei zu verbessern und abzusichern. Notwendig seien qualitativ gute Informationsmöglichkeiten und Diskussionsforen, die eine Beteiligung der Mitglieder an der Willensbildung der Partei sicherstellten. Diese Beteiligung und Mitsprache dürfe nicht den Charakter von Alibiveranstaltungen haben, sondern müsse ernst gemeint sein und Folgen haben.
  8. Die Mitglieder der Partei problematisierten zudem die Schwächung der Organisationskraft der Partei. Dies bezog sich auf die geschwächte Präsenz der SPD vor Ort mit Büros und hauptamtlichen Mitarbeiter/innen (die durch die aktuelle Wahlniederlage noch schwieriger werde), die beschränkten finanziellen Möglichkeiten und die mangelnde Unterstützung für die Arbeit der Partei vor Ort. Infolge der Halbierung der Mitglieder der SPD seit 1990 sind die Beitragseinnahmen und anderer Einnahmen entsprechend zurückgegangen, weshalb der Landesverband seit dem Jahre 2000 rund 40% der hauptamtlichen Stellen in den Kreisgeschäftsstellen und in der Landesgeschäftsstelle streichen musste. Dort wird gegenwärtig mit einem Minimum der vertretbaren Personalausstattung gearbeitet. Aktuell verliert der Landesverband nach der verlorenen Wahl bis 2014 weitere rund 1 Million Euro an staatlichen Mitteln (Geldern aus dem innerparteilichen Bund/Länder-Finanzausgleich, Mandatsabgaben von Ministern, Bundestags- und Landtagsabgeordneten und weiter sinkenden Beitragseinnahmen) Aussichten, die eine Veränderung hier schwieriger machen.
  9. Es wurde berichtet, dass der Rückgang der Mitgliederzahlen und die Altersstruktur der Mitglieder die Existenz und Organisationsfähigkeit vieler Ortsvereine gefährde und zu einer Überlastung der in Partei und Kommunalpolitik aktiven Mitglieder führe. Zuviel Arbeit werde auf zu wenige Schultern gepackt. Andererseits wurde bemängelt, dass es neuen Mitgliedern häufig schwer gemacht werde, in der SPD Fuß zu fassen. Jüngere Mitglieder bekämen einerseits zu wenig Chancen und Verantwortung, andererseits fehlten Angebote inhaltlicher Fundierung sozialdemokratischer Arbeit. Teilweise sei auch die Arbeitsweise der SPD altmodisch und für Junge nicht alternativ. Um mehr Frauen für die Arbeit in der SPD zu gewinnen, bedürfe es weniger zeitaufwendiger Routinen, flacherer Hierarchien und einer insgesamt lebensnäheren Diskussionskultur.
  10. In den Diskussionen wurde festgestellt, dass die frühere starke Verankerung der SPD in Gewerkschaften, Sozialverbänden und vielen anderen Vereinen, Verbänden und Initiativen in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter zurückgegangen sei. Dies gelte für alle Ebenen der Partei –Bundespartei, Landespartei, Kreisverbände, Ortsvereine. Dadurch seien der SPD viele Kontakte, kritische Antennen und Anregungen von außen –also die Seismographen für gesellschaftspolitische Entwicklungen- verloren gegangen.


IV. Gefährdete Identität der Sozialdemokratie