L1 Neu: Identität und Weg ins nächste Jahrzehnt Sozialdemokratie in Schleswig-Holstein (2010)

Aus Beschlussdatenbank der SPD Schleswig-Holstein
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Gremium: Landesparteitag
Sitzung: Landesparteitag Neumünster 2010
Bezeichnung: Leitantrag L1 Neu
Antragsteller: Landesvorstand


Beschluss: Angenommen


„In der Finanzkrise hat der Marktradikalismus seine Widerlegung überlebt, aber die Sehnsucht nach einer Alternative wächst in der Bevölkerung. Es gibt Umfragen, wonach drei Viertel der Deutschen der Meinung sind, es gehe bei uns ungerecht zu, und die Hälfte dieser drei Viertel ist der Meinung, das bleibe auch so, weil niemand das ändern wird. Einer der Gründe, warum wir die Wahl verloren haben, liegt darin, dass die Menschen gar nicht mehr glauben, dass es jemanden gibt, der dieses Land gerechter machen kann. Und genau da werden wir zu arbeiten haben. Wir werden die Alternative zu diesem marktradikalen Denken formulieren, propagieren und durchsetzen müssen. Wenn uns das gelingt, dann können die Zeitungen zehnmal schreiben, das sei ein Linksruck- wir sind dann genau in der Mitte unserer Gesellschaft. Noch nie in 60 Jahren hat dieses Land die Sozialdemokratie dringender gebraucht als heute!“ (Erhard Eppler, Dresden, 2009)


Vorbemerkung: Die Abschnitte I. bis IV. dienen der Einführung, der Analyse und der Begründung für den Beschlussteil V.


I. Unsere gemeinsame Herausforderung - Die Lage der SPD

Die Wahlen vom 27.September 2009 waren für die Sozialdemokratie eine schwere Niederlage. Elf Regierungsjahre im Bund und eine 22jährige Regierungszeit in Schleswig-Holstein wurden mit diesen Wahlen beendet.

Die SPD kam bei der Bundestagswahl auf bundesweit 23% (-11,2%) und in Schleswig-Holstein auf 26,8% (-11,4%). Bei der Landtagswahl haben wir 25,4% erzielt (-13,2%) und damit im Vergleich zu 2005 148.664 Stimmen verloren.

Diese Wahlergebnisse sind für die SPD die schlechtesten aller Bundestags- und Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und bedeuten eine Zäsur in der Geschichte der Sozialdemokratie. Gleichzeitig bildet der Wahltag dann den Tiefpunkt einer schon länger andauernden bundesweiten Entwicklung, die auch in anderen europäischen Ländern zu beobachten ist.

Die Sozialdemokratie hat in Deutschland seit 1998 viele Wahlen, zehn Millionen WählerInnen verloren, also die Hälfte ihrer Wählerschaft. Seither haben über 200.000 Mitglieder die Partei durch Austritt verlassen, davon rund 8000 in Schleswig-Holstein.

Die SPD steckt angesichts solcher gravierender Verluste in einer tiefen Krise. Wir stehen vor der immensen Herausforderung Kompetenz, Gestaltungskraft, Glaubwürdigkeit und vor allem das Vertrauen in die Sozialdemokratie für die Zukunft wieder herzustellen.

Die Gestaltung dieses für die Zukunft der Sozialdemokratie unabdingbaren Prozesses ist eine gemeinsame Herausforderung für alle Mitglieder der SPD. Nach der Wahl hat in den Ortsvereinen und Kreisverbänden des Landes eine intensive Debatte über die Zukunft der SPD begonnen. Alle 15 Kreisverbände und die Arbeitsgemeinschaften haben vor Ort mit dem Landesvorsitzenden intensiv diskutiert. Viele weitere Mitglieder haben die Diskussionsmöglichkeit auf den drei Mitglieder-Konferenzen genutzt, die auf Einladung des Landesvorstandes im November stattgefunden haben. Darüber hinaus gab es zahlreiche Diskussionsrunden in Ortsvereinen und Kreisverbänden, an denen auch Mitglieder des Landesvorstands teilgenommen haben.

Die Glaubwürdigkeit und der Stil der SPD in ihrem Regierungshandeln, Defizite bei der innerparteilichen Demokratie und die abnehmende gesellschaftliche Verankerung der SPD in Vereinen, Verbänden und Initiativen waren dabei die Dreh- und Angelpunkte der Diskussion. Offen und kontrovers wurden in allen Veranstaltungen inhaltliche Positionen, konkretes Regierungshandeln, programmatisches Profil, organisatorische Fragen und auch die Verant­wortung von Landesvorstand und Landesvorsitzendem diskutiert. Dabei gab es auch Forderungen nach einer personellen Trennung der Funktionen von Landesvorsitz und Landtagsfraktionsvorsitz.

Wir sind uns bewusst, dass wir erst am Anfang der Diskussion stehen. Mit diesem Antrag will die SPD Schleswig-Holstein eine Grundlage für die noch vor uns liegenden Debatten und die Arbeit an der Erneuerung der Sozialdemokratie formulieren und Orientierung geben.

Die SPD hat in ihrer Geschichte von Anfang an neben allen Errungenschaften und Erfolgen immer wieder große und teilweise katastrophale Krisen durchlebt. Wir stehen jetzt erneut vor der Aufgabe, neue Perspektiven für die Sozialdemokratie zu entwickeln. Die SPD war immer wieder fähig zu Aufbruch und großer historischer Initiative.

Der Antrag beinhaltet im Folgenden eine Kurzanalyse der Bundestagswahl und der Landtagswahl in Schleswig-Holstein (II.) und stellt die angesprochenen Themenkreise aus den bisherigen Diskussionen in der Mitgliedschaft vor (III.). Es folgt ein Kapitel zur Identität und Erneuerung der Sozialdemokratie (IV.), in dem es um eine zwingend notwendige Abgrenzung der Sozialdemokratie zum Wirtschaftsliberalismus und um einen Denkanstoß zur Erneuerung der sozialdemokratischen Bewegung geht. Um Zukunftsperspektiven und Erneuerung der Parteiarbeit geht es in Kapitel V. Hier wird ein Vorschlag zu künftigen Prioritäten und Rangfolgen unserer Parteiarbeit zur Diskussion gestellt und es werden konkrete Vorschläge gemacht für die inhaltliche Weiterentwicklung, zur innerparteilichen Demokratie, zur Mitgliederpartei in der Gesellschaft, zu organisatorischen Notwendigkeiten sowie zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit und zur Personalentwicklung.

Es geht um eine Zwischenbilanz der bisherigen innerparteilichen Diskussion in Schleswig-Holstein. Sie soll dazu einladen, mitzudiskutieren und mitzumachen. Sie ist die Basis für die folgenden Schritte und für unsere Arbeit als schlagkräftige Oppositionspartei gegen das schwarzgelbe Bündnis aus Konservativen und Egoisten und für die jetzt auch notwendige öffentliche Debatte. Dieser Parteitag bedeutet nicht das Ende der Diskussion, sondern ist ein wichtiger Teil eines Erneuerungsprozesses der SPD insgesamt und auch unseres Landesverbandes. Die Erkenntnisse dieser Diskussionen werden wir immer in unsere aktuelle politische Arbeit einzubeziehen haben.

In diesen Prozess wollen wir nach dem Parteitag auch die BürgerInnen, die Gewerkschaften, die Wirtschaft, die Sozial- und Umweltverbände, den Religionsgemeinschaften, die Wissenschaft, die Kulturschaffenden und möglichst viele Vereine, Verbände und Institutionen unseres Landes einbeziehen.

Im Herbst 2010 wird es einen Bundesparteitag geben auf dem weitere Schlussfolgerungen aus den Wahlniederlagen für die zukünftige Arbeit der SPD beraten werden. In Schleswig-Holstein werden wir vor diesem Parteitag einen Landesparteitag durchführen, der durch drei Mitglieder-Konferenzen vorbereitet werden soll und vielleicht auch auf dem Parteitag selber über Foren oder Arbeitsgruppen die stärkere Möglichkeit der Mitwirkung eröffnet.

Wir stehen gemeinsam vor Willy Brandts mahnendem Vermächtnis von 1992: „Unsere Zeit steckt, wie kaum eine andere zuvor, voller Möglichkeiten – zum Guten und Bösen. Nichts kommt selbst und nur wenig ist von Dauer. Darum – besinnt euch auf eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“

Es liegt an uns, dies nicht nur zu zitieren, sondern auch aufzunehmen. In dem vor uns liegenden Prozess müssen wir die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung begreifen und Veränderungsnotwendigkeiten für die Zukunft definieren.


II. Die Wahlniederlage vom 27. September 2009

(Die nachfolgenden Angaben beruhen auf den Wahlanalysen von infratest-dimap, Berlin)

a) Die Bundestagswahl

Die Sozialdemokratie hat bei der Bundestagswahl und der Landtagswahl am 27. September 2009 eine verheerende Wahlniederlage erlitten. Bei der Bundestagswahl, bei der die Wahlbeteiligung um insgesamt 6,9 Prozentpunkte gesunken ist, hat die SPD mit 23% gegenüber 2005 6,2 Millionen WählerInnen verloren. In Schleswig-Holstein kam die SPD bei der Bundestagswahl auf 26,8% und erlitt, bei einer um 5,5 Prozentpunkte zurückgehenden Wahlbeteiligung, damit einen Verlust von 225.000 Stimmen. Die SPD hat mit bundesweit 2,1 Millionen WählerInnen am stärksten an die „NichtwählerInnen“ verloren. Der zweitgrößte Wählerstrom verläuft von der SPD zur Linkspartei (1,1 Millionen). Darüber hinaus wechselten netto jeweils etwa 870.000 ehemalige SPD-WählerInnen zu den Grünen, zu CDU und CSU sowie weitere 520.000 zur FDP.

Die SPD verliert in allen Alters- und Bevölkerungsgruppen. Besonders hoch fallen die Verluste bei JungwählerInnen (-20 Prozentpunkte) aus. Überdurchschnittliche Einbußen muss sie auch bei der klassisch sozialdemokratischen Klientel, den Arbeitern, Angestellten und Gewerkschaftsmitgliedern, hinnehmen. Ihre höchsten Stimmenanteile erreicht die SPD dennoch weiterhin bei gewerkschaftlich organisierten Arbeitern, wo sie die stärkste Kraft bleibt, sowie bei WählerInnen mit einfacher Schulbildung und Rentnern. Ihre niedrigsten Wähleranteile liegen dagegen bei Selbständigen und katholischen WählerInnen.

Die WählerInnen hatten zur Bundestagswahl vor allem drei inhaltliche Aspekte im Blick: Wirtschaft (39%), soziale Gerechtigkeit (34%) und Arbeitsmarkt (27%). Im Vergleich zu 2005 ist vor allem der Stellenwert der Bildung für die Wahlentscheidung gewachsen. Die SPD brachte ihre WählerInnen vor allem mit Gerechtigkeitsfragen (45%) an die Urnen. Die FDP punktete wie die CDU vor allem mit Wirtschaftsthemen. Die Linkspartei sprach ihre WählerInnen vorrangig mit sozialpolitischen Themen an. Die Grünen mobilisierten über ihre umweltpolitische Schwerpunktsetzung.

SSW-WählerInnen, die bei der Landtagswahl SSW gewählt haben, gingen nun auch vollständig zur Bundestagswahl und wählten dort in hohem Maße die SPD. Rechnet man diesen Faktor heraus, so ist der übliche Abstand zwischen Bundestagswahl und Landtagswahl bei getrennten Wahlgängen erkennbar.

In den Wahlumfragen beurteilten 59 Prozent die Situation in Deutschland als „ungerecht“. Hinsichtlich der Frage, ob eher Leistung oder Solidarität zählen solle, votierten für „Leistung“ 31 Prozent (-3 zu 2005), für „Solidarität“ 59 Prozent (+4 zu 2005). Bei den Unentschlossenen war das Verhältnis 23 zu 72 Prozent.

Bei den Kompetenzzuschreibungen hatte die SPD in erster Linie in den Feldern „Soziale Gerechtigkeit“ (44 Prozent zu 19 Prozent bei der Union) und „Für angemessene Löhne sorgen“ (43 zu 20) die Nase vorn. Die Union hatte klare Vorsprünge in den Bereichen „Kriminalität und Verbrechen bekämpfen“ (47 zu 20) sowie „Wirtschaft voranbringen“ (47 zu 21). Ebenso lag die Union im wichtigen Kompetenzfeld „Arbeitsplätze sichern und neue schaffen“ mit 37 zu 31 vorn; auch wenn die SPD hier gegenüber 2005 stark aufholen konnte. Doch nur 38 Prozent stimmten der Aussage zu, dass die SPD gute Ideen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze habe. 69 Prozent gaben an, man wisse bei der SPD nicht, was sie nach der Bundestagswahl vorhabe.

Der Glaubwürdigkeitsverlust in Sachen „soziale Gerechtigkeit“ ist der Dollpunkt für die starken Verluste in Richtung Nicht- und LinksparteiwählerInnen, die zugeschriebene Langeweile, „Spießigkeit“ und mangelnde Zukunftsorientierung erklärt Verluste an GRÜNE, gerade bei urbanen Milieus und bei Jungwählerinnen und Jungwählern. Verluste an schwarz-gelb mögen auch an dem Defizit einer realen Machtoption jenseits einer erneuten Juniorpartnerschaft innerhalb einer großen Koalition begründet sein.

b) Die Landtagswahl

Die Wahlbeteiligung ist in Schleswig-Holstein als Folge der Kopplung mit der Bundestagswahl deutlich gestiegen. Gegenüber der letzten Landtagswahl steigt die Beteiligung um 6,3 Prozentpunkte auf 72,8 Prozent. Die SPD büßt hier mit 25,4% im Vergleich zu 2005 148.664 Stimmen ein. Die erstmalige Doppelwahl in der Geschichte des Landes war mit erheblichen Nachteilen für die SPD Schleswig-Holstein verbunden.

Die Verluste der SPD traten landesweit auf. Es gibt keinen Wahlkreis, in dem die SPD gegenüber 2005 nicht zweistellig verloren hat. Die größten Einbußen musste sie in Regionen mit hoher Einwohnerdichte hinnehmen, z.B. in Flensburg, Kiel-West oder Lübeck-Süd. Regional sind die Verluste vor allem im Hamburger Umland sowie in der Stadt Kiel verortet.

Die SPD verliert an alle Parteien insgesamt 128.000 WählerInnen. Die Abwanderung erfolgt vor allem an die Grünen (-51.000) und die Linkspartei (-31.000). Die Einbußen durch Generationenwechsel (-19.000) und Ortswechsel früherer WählerInnen (-6.000) übersteigt die Zugewinne durch die Mobilisierung ehemaliger NichtwählerInnen (+8.000) deutlich. Interessant ist allerdings, dass es im Gegensatz zur Bundestagswahl zu einer Mobilisierung gekommen ist, was allerdings auch durch die gestiegene Wahlbeteiligung begünstigt wurde. Bemerkenswert ist ferner, dass die meisten WählerInnen an die Grünen verloren gingen und erst danach die Verluste an die Linkspartei folgen.

Die SPD-Einbußen betreffen alle Bevölkerungsgruppen, allerdings in unterschiedlicher Ausprägung. Sie verliert überdurchschnittlich bei 18- bis 24-Jährigen, 35- bis 44-Jährigen sowie Frauen. Darüber hinaus erleiden die Sozialdemokraten besonders hohe Verluste bei Personen mit mittlerer Schulbildung, Arbeitern und Angestellten, Personen in Ausbildung, Arbeitslosen, Gewerkschaftsmitgliedern sowie Konfessionslosen. Ihre besten Ergebnisse erzielen die Sozialdemokraten bei über 45-jährigen, Personen mit niedriger formaler Schulbildung sowie Gewerkschaftsmitgliedern. Dies scheint dem Bundestrend zu folgen.

Die Wählerinnen und Wähler hatten in Schleswig-Holstein vor allem zwei inhaltliche Aspekte im Blick: Wirtschaft (37 Prozent) und soziale Gerechtigkeit (29 Prozent). An dritter Stelle rangieren Arbeitsmarktpolitik sowie Schul- und Bildungspolitik, die jeweils für 24 Prozent der WählerInnen das wahlentscheidende Thema darstellten. Die CDU mobilisierte ihre WählerInnen wie keine andere Partei mit wirtschaftspolitischen Themen (53 Prozent). Mit deutlichem Abstand folgen die Arbeitsmarktpolitik (23 Prozent), die Wirtschaftskrise (20 Prozent) sowie Bildung (17 Prozent).

Die SPD brachte ihre WählerInnen in erster Linie mit Gerechtigkeitsfragen (43 Prozent) an die Urne. An zweiter Stelle rangieren mit deutlichem Abstand Themen zum Arbeitsmarkt und zur Wirtschaftspolitik (beide 28 Prozent).

Eine Mehrheit der WählerInnen in Schleswig-Holstein (50%) ist der Meinung, dass die SPD die Partei ist, die sich am stärksten um den sozialen Ausgleich im Land bemüht.

Die FDP motivierte, wie die CDU, in erster Linie mit Wirtschaftsthemen (52 Prozent). Wie bei keiner anderen Partei spielte bei der Wahlentscheidung zugunsten der Liberalen das Thema Steuern eine bedeutende Rolle (24 Prozent). Mehr WählerInnen als 2005 konnte die FDP auch durch Gerechtigkeitsfragen motivieren (+8 Prozent). Die Grünen überzeugten ihre WählerInnen vor allem durch ihre umweltpolitischen Angebote (62 Prozent). Darüber hinaus orientierten sich die Grünen-WählerInnen an Fragen des sozialen Ausgleichs (35 Prozent) sowie der Schul- und Bildungspolitik (30 Prozent).

Die Linkspartei sprach in Schleswig-Holstein die WählerInnen wie gehabt vor allem mit sozialpolitischen Themen an. Wie bei keiner anderen Wählerschaft war das Votum zugunsten der Linkspartei durch die Gerechtigkeitsfrage geprägt (56 Prozent). An zweiter Stelle folgen arbeitsmarktpolitische Überlegungen (33 Prozent). Der SSW mobilisierte seine WählerInnen vor allem mit Fragen zur sozialen Gerechtigkeit (40 Prozent). An zweiter Stelle folgen Schul- und Bildungspolitik (36 Prozent).

Personelle Aspekte spielten bei den WählerInnen in Schleswig-Holstein insgesamt eine geringere Rolle als 2005. Dies gilt allerdings nicht für die Stimmabgabe zugunsten der Union. Wegen des Amtsinhabers Peter Harry Carstensen entschied sich fast jeder dritte CDU-WählerIn (2005 jeder sechste) für diese Partei. Damit war das Unions-Votum diesmal stärker personell geprägt als vor vier Jahren. Beim SPD-Votum spielten personelle Aspekte eine geringere Rolle. Orientierte sich 2005 fast jeder zweite SPD-Wählende an der damaligen SPD-Ministerpräsidentin Heide Simonis, war der SPD-Spitzenkandidat diesmal für ca. 20% der SPD-WählerInnen der ausschlaggebende Wahlgrund. An Bedeutung gewonnen hatten für die SPD-WählerInnen dagegen inhaltliche Überlegungen – sie waren für 49% ausschlaggebend für ihr Votum (+23%) - mehr noch als traditionelle Bindungen (-2%). Letztere motivierten diesmal jeden vierten SPD-WählerIn (26%) zur Wahl.

In der Frage, wen sich die WählerInnen als Ministerpräsidenten wünschten, konnte Ralf Stegner in dem kurzen Landtagswahlkampf deutlich aufholen. 44% der WählerInnen sprachen sich für Carstensen aus, 40% für Ralf Stegner. In einer Umfrage vor dem Wahlkampf hatte dieser Abstand zwischen beiden noch 51:19 betragen, also 32 Prozentpunkte.

Interessant ist, dass bei den beiden wichtigsten Themen Ralf Stegner im Profilvergleich der beiden Spitzenkandidaten vor Peter Harry Carstensen lag. In der Frage, wer über den größeren wirtschaftspolitischen Sachverstand verfügt führte Ralf Stegner mit 39:37 und bei der Frage, wer sich stärker für soziale Gerechtigkeit einsetzt, sogar mit 50:29.


III. Die Lage aus der Sicht unserer Mitglieder

Der Landesparteitag bedankt sich bei allen Mitgliedern, die sich nach der Wahl in den Ortsvereinen und Kreisverbänden und in den Veranstaltungen des Landesverbandes an der Diskussion und Aufarbeitung der Wahlniederlage beteiligt haben. Auch den Mitgliedern, die sich die Mühe gemacht haben, ihre Überlegungen schriftlich zu schicken, gilt unser Dank. Aufgrund der Vielzahl konnten nicht alle eingegangenen Zuschriften beantwortet werden konnten. Der Landesverband hat diese aufgenommen und viele der Diskussionsbeiträge in den Kreisverbänden und die Mitglieder-Konferenzen in Stichworten mitgeschrieben, diese dokumentiert und versucht, das ganze Meinungsspektrum wieder zu geben.

In den Diskussionen nach der Wahl und in den drei Mitgliederkonferenzen wurden vorrangig die folgenden zehn Themenkreise angesprochen:

  1. Durchgängig und überragend war die Kritik an der „Agenda 2010“, an Hartz IV und der „Rente 67“. Diese Beschlüsse der Bundesregierung unter sozialdemokratischer Führung bzw. Regierungsbeteiligung in der Großen Koalition hätten die Glaubwürdigkeit der SPD im Mark getroffen, wenn nicht gar zerstört. Unsere Kernkompetenz, die in dem Eintreten für soziale Gerechtigkeit besteht, werde von einer großen Anzahl von BürgerInnen in Zweifel gezogen. Insbesondere die negativen Folgen für auch für langjährig Beschäftigte, die Angst vor und in Teilen auch reale Gefahr von sozialem Abstieg und Altersarmut, der verstärkte Zwang zur Annahme von schlecht bezahlten (Mini-)Jobs und die zunehmend auseinanderklaffende Schere von arm und reich würden der SPD zugeschrieben.
  2. Die SPD habe auch ihre historischen Versprechen Aufstieg durch Bildung für alle, durch gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung, die eine Teilhabe an den Wohlstandsgewinnen garantierte, durch soziale Arbeitsschutz- und Arbeitsmarktgesetze, durch die Stärkung der Sozialsysteme für Gesundheit, Pflege und Rente für Sicherheit, Chancen und Aufstieg zu sorgen in den Jahren ihrer Regierungszeit nicht mehr glaubwürdig vertreten können. Hierdurch habe die SPD an die „Partei der Nichtwähler“ und an die Linkspartei in großem Umfang Stimmen verloren. In Bezug auf die Landespolitik gab es viel Kritik an einer im Grundsatz positiv gesehenen Schulpolitik bei deren konkreter Ausgestaltung vor Ort. Viele BürgerInnen in Schleswig-Holstein hätten zudem nicht an die finanzielle Umsetzbarkeit von drei gebührenfreien KiTa-Jahren geglaubt. Dafür habe es kein konkret vermittelbares Gegenfinanzierungsmodell gegeben.
  3. Massiv wurde in diesem Zusammenhang der Regierungsstil insbesondere unter Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem Parteivorsitzenden Franz Müntefering kritisiert. Agenda 2010, Rente mit 67 und die Bahnreform seien drei Beispiele dafür, wie die Regierungs-SPD mit Rücktrittsdrohungen und den Mitteln der Basta-Politik Beschlüsse durchgesetzt habe, die offenkundig keine Mehrheit in der Mitgliedschaft der SPD, bei deren Anhängern und in der Bevölkerung gefunden hätten.
  4. iele Mitglieder beurteilten die Beteiligung an den Großen Koalitionen im Bund und in Schleswig-Holstein in der Position des Juniorpartners äußerst kritisch und sahen hier eine wesentliche Ursache für die Wahlniederlage. Die SPD habe zwar wichtige und richtige Entscheidungen durchgesetzt, aber auch für die Mitgliedschaft und Wählerschaft der SPD schwer verdauliche Entscheidungen mittragen müssen. Die Feststellung im Leitantrag des Dresdner Bundesparteitages zur Beteiligung an der Großen Koalition („Es war richtig … 2005 die Möglichkeit zum Mitregieren in der Großen Koalition zu nutzen.“) wurde von vielen Mitgliedern in Zweifel gezogen. Das galt im Übrigen sowohl für die große Koalition in Berlin mit der Zuschreibung einer zu nachgiebigen SPD-Spitze und für die große Koalition in Kiel mit der Zuschreibung einer zu offensiven SPD-Führung.
  5. Bezogen auf die Landtagswahl in Schleswig-Holstein wurde in allen Veranstaltungen die Rolle des Spitzenkandidaten thematisiert. Auf Kritik stieß vor allem sein polarisierendes Agieren in der Großen Koalition. Andererseits wurde seine auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit zugespitzte thematische Positionierung breit unterstützt.
  6. Die häufigen Wechsel im Amt des Vorsitzenden der SPD und in den vergangenen zehn Jahren (Lafontaine, Schröder, Müntefering, Platzeck, Beck, Müntefering, Gabriel) und deren Umstände hätten zu einem starken Vertrauensverlust in die SPD und ihre Führung geführt. Dasselbe gelte in Schleswig-Holstein für die Umstände der Nichtwahl von Heide Simonis im Jahre 2005 und vorher die (ohne Gegenkandidaten erfolgte) Abwahl von Franz Thönnes als SPD-Landesvorsitzender. Es wurde kritisiert, dass beide Ereignisse nicht zu einer Aufarbeitung bzw. Überlegungen zu einer neuen Streitkultur geführt hätten. Der Umgang einiger Sozialdemokraten in Führungsverantwortung sei von außen betrachtet wenig Vertrauen erweckend und stoße damit neue WählerInnen und Mitglieder bzw. solche, die es werden könnten ab. Der Umgangsstil müsse die eigenen Werte der Sozialdemokratie erkennbar werden lassen.
  7. In allen Veranstaltungen zeigte sich, dass die Mitglieder der SPD deutlich mehr Beteiligung und Mitsprache verlangen als in der Vergangenheit. Die innerparteiliche Demokratie sei stark verbesserungswürdig. Eine vorrangige Aufgabe des Landesvorstandes bestehe darin, die Beteiligung und Mitsprache der Parteimitglieder an wichtigen Entscheidungen der Bundes- und der Landespartei zu verbessern und abzusichern. Notwendig seien qualitativ gute Informationsmöglichkeiten und Diskussionsforen, die eine Beteiligung der Mitglieder an der Willensbildung der Partei sicherstellten. Diese Beteiligung und Mitsprache dürfe nicht den Charakter von Alibiveranstaltungen haben, sondern müsse ernst gemeint sein und Folgen haben.
  8. Die Mitglieder der Partei problematisierten zudem die Schwächung der Organisationskraft der Partei. Dies bezog sich auf die geschwächte Präsenz der SPD vor Ort mit Büros und hauptamtlichen Mitarbeiter/innen (die durch die aktuelle Wahlniederlage noch schwieriger werde), die beschränkten finanziellen Möglichkeiten und die mangelnde Unterstützung für die Arbeit der Partei vor Ort. Infolge der Halbierung der Mitglieder der SPD seit 1990 sind die Beitragseinnahmen und anderer Einnahmen entsprechend zurückgegangen, weshalb der Landesverband seit dem Jahre 2000 rund 40% der hauptamtlichen Stellen in den Kreisgeschäftsstellen und in der Landesgeschäftsstelle streichen musste. Dort wird gegenwärtig mit einem Minimum der vertretbaren Personalausstattung gearbeitet. Aktuell verliert der Landesverband nach der verlorenen Wahl bis 2014 weitere rund 1 Million Euro an staatlichen Mitteln (Geldern aus dem innerparteilichen Bund/Länder-Finanzausgleich, Mandatsabgaben von Ministern, Bundestags- und Landtagsabgeordneten und weiter sinkenden Beitragseinnahmen) Aussichten, die eine Veränderung hier schwieriger machen.
  9. Es wurde berichtet, dass der Rückgang der Mitgliederzahlen und die Altersstruktur der Mitglieder die Existenz und Organisationsfähigkeit vieler Ortsvereine gefährde und zu einer Überlastung der in Partei und Kommunalpolitik aktiven Mitglieder führe. Zuviel Arbeit werde auf zu wenige Schultern gepackt. Andererseits wurde bemängelt, dass es neuen Mitgliedern häufig schwer gemacht werde, in der SPD Fuß zu fassen. Jüngere Mitglieder bekämen einerseits zu wenig Chancen und Verantwortung, andererseits fehlten Angebote inhaltlicher Fundierung sozialdemokratischer Arbeit. Teilweise sei auch die Arbeitsweise der SPD altmodisch und für Junge nicht alternativ. Um mehr Frauen für die Arbeit in der SPD zu gewinnen, bedürfe es weniger zeitaufwendiger Routinen, flacherer Hierarchien und einer insgesamt lebensnäheren Diskussionskultur.
  10. In den Diskussionen wurde festgestellt, dass die frühere starke Verankerung der SPD in Gewerkschaften, Sozialverbänden und vielen anderen Vereinen, Verbänden und Initiativen in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter zurückgegangen sei. Dies gelte für alle Ebenen der Partei –Bundespartei, Landespartei, Kreisverbände, Ortsvereine. Dadurch seien der SPD viele Kontakte, kritische Antennen und Anregungen von außen –also die Seismographen für gesellschaftspolitische Entwicklungen- verloren gegangen.


IV. Gefährdete Identität der Sozialdemokratie

1. Das eigene Programm leben

Sozialdemokratie ist der Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung jeglicher Art. Sozialdemokratie bedeutet Kampf für Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität im internationalen Maßstab. Das muss wieder sichtbar werden.

Heute haben wir es zu tun mit einem theoretisch wie real äußerst radikalen und rigorosen Neoliberalismus. Kernpunkte dieses neuen Wirtschaftsliberalismus sind die Schwächung von Staat und Gewerkschaften, Sozialabbau, Senkung der Einkommen und Rechte von Arbeitnehmer/innen, eine Verschiebung der unternehmerischen Risiken auf die Beschäftigten, Privatisierung öffentlicher Einrichtungen und Dienstleistungen und Hochrüstung. Wissen und die neuen Aktionsmöglichkeiten auf den Finanzmärkten wurden zu den bestimmenden Determinanten des neuen Wirtschaftssystems. Diese vorherrschende begleitende und bis zu einem gewissen Grad unterstützende neoliberale Denkrichtung hatte in den 80er und 90er Jahren auch in Deutschland (Standort-Deutschland-Debatte u. a. unterstützt durch den arbeitgeberfinanzierten Think Tank „Initiative Neue Soziale Markwirtschaft“) und in der EU maßgeblichen Einfluss auf den ökonomischen und gesellschaftspolitischen Diskurs und gewann nach dem Ende des Kommunismus globale Dominanz. Die Lehrsätze dieser Denkschule sind so einfach und wie auch falsch:

  1. Wohlstand für alle wird allein durch Wirtschaftswachstum erreicht.
  2. Alles, was Wirtschaftswachstum hindert, muss weg. Die freien Kräfte des Marktes müssen sich ungehindert entwickeln können.
  3. Wachstum braucht keine Regeln.
  4. Staat und Politik sind deshalb Gift für den Markt und müssen sich heraushalten.
  5. Ein freier Markt schafft auch allein Gerechtigkeit.
  6. Politik muss nur bei negativen Entwicklungen für den Markt regulierend eingreifen und Schaden vom Markt und seinen Akteuren abhalten (z. B durch steuerfinanzierte Bad Banks).

Helmut Schmidt hat diese Art des Kapitalismus zutreffend als Raubtierkapitalismus bezeichnet. Es handelt sich im Kern um eine Perversion unseres Verständnisses von Gesellschaft: Je mehr Arbeitsplätze ein Unternehmen vernichtet, desto höher steigt der Aktienkurs. In kürzester Frist aus Geld mehr Geld zu machen, ist zum alles beherrschenden Ziel dieser Ökonomie geworden. Welche Güter und Dienstleistungen dabei hergestellt werden und wie dies geschieht, ist zur Nebensache geworden. Die Gier nach immer mehr und immer schnelleren Gewinnen ist zur Triebfeder im internationalen Wirtschafts- und Finanzsystem geworden. In der internationalen Finanzkrise hat sich gezeigt, dass diese Gier Vermögen, Arbeitsplätze, die Umwelt und das soziale Miteinander der Menschen zerstört. Diese Gier gefährdet und vernichtet einzelne Existenzen, ganze Familien - und verletzt letztendlich die Würde von Millionen von Menschen.

Die Sozialdemokratie hat in ihren elf Regierungsjahren im Bund vieles erreicht auf das wir stolz sind. Dazu gehören die Senkung der Arbeitslosigkeit, die Verteidigung von Arbeitnehmerrechten, höhere Investitionen in Bildung und Wissenschaft, bessere Förderung und mehr Rechte für Kinder, eine moderne Familienpolitik und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Atomausstieg und Investitionen in die Energiewende, Politik für die Gleichstellung von Männern und Frauen, mehr Rechte für an den Rand der Gesellschaft gedrückte Gruppen und Fortschritte bei der Integrationspolitik.

Aber die SPD ist der Dominanz des Neoliberalismus nicht entschieden genug entgegengetreten und war sich insbesondere auch über die Folgen der zunehmenden Dominanz der Finanzmärkte nicht im Klaren. Im Gegenteil: Wichtige Entscheidungen der SPD in Regierungsverantwortung folgten marktradikalen Denkschulen (neue Finanzmarktinstrumente wurden zugelassen, die Unternehmenssteuern und der Spitzensatz für Millionäre wurden gesenkt, während als Ausgleich für Mindereinnahmen, höhere Steuern auf mittlere Einkommen erhoben wurden; die Unternehmen wurden bei den Sozialabgaben entlastet, während die Arbeitnehmer stärker belastet wurden; Hartz IV reduzierte die Leistungen auch für langjährige Einzahler in die Arbeitslosenversicherung; der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung wurde reduziert, während zugleich immer mehr Zuzahlungen anfallen; den Unternehmen der Finanzindustrie wurden so neue Märkte erschlossen (private Zusatzversicherungen, Pensionsfonds usw.). Die Arzneimittelpreise in Deutschland sind im EU-Vergleich die höchsten; die Einkommensunterschiede zwischen Unternehmer- und Spitzeneinkommen auf der einen und Arbeitnehmer- und Rentnereinkommen auf der anderen Seite sind gestiegen; die Schere zwischen Arm und Reich geht auch hier weiter auseinander. Wir haben zugelassen, zum Teil daran mitgewirkt, dass das Vertrauen in die Altersversorgung beschädigt wurde.

Das Meinungsforschungsinstitut Allensbach hat im Dezember 2008 ermittelt, dass nur noch 8% der BürgerInnen die SPD für glaubwürdig halten und 9% davon überzeugt sind, dass von der SPD kraftvolle Impulse und Ideen für die Politik ausgehen.

Die in diesem Jahrzehnt erfolgte tendenzielle Anpassung der SPD – jedenfalls der Regierungs-SPD - an neoliberales Denken und neoliberale Positionen ist spätestens mit der Wahl am 27. September 2009 gescheitert. Die Basta-Politik konnte - mit Unterstützung von Teilen der Medien und Industrie (z.B. Energiekonzerne, Leiharbeitsfirmen) - zwar in den Parteigremien durchgesetzt werden, Mitglieder und WählerInnen der SPD hat sie jedoch zur Abwendung von der SPD und von Politik insgesamt gebracht. Dies hat unseren Markenkern der sozialen Gerechtigkeit massiv beschädigt. Ein großer Teil der Mitglieder und WählerInnen fühlt sich von der Politik der SPD nicht vertreten. In den Wahlkämpfen wurde sozial geredet, in der Regierung wurde anders gehandelt.

Viele soziale Indikatoren – die Entwicklung der Lohnquote, die Verteilung von Einkommen und Vermögen, die Entwicklung von Armut und die Anzahl ungesicherter Beschäftigungsverhältnisse - weisen darauf hin, dass Arbeitnehmer/innen in Deutschland nach elf Jahren SPD an der Regierung nicht besser dastehen, sondern schlechter. Die SPD hat durch ihren Schlingerkurs zwischen sozialer Programmatik und neoliberaler Anpassung ihre Glaubwürdigkeit und das Vertrauen ihrer WählerInnen aufs Spiel gesetzt und viel davon verloren. Einer der entscheidenden Gründe, warum die SPD die Wahlen verloren hat, liegt darin, dass die Menschen gar nicht mehr glauben, dass es jemanden gibt, der dieses Land gerechter machen kann (Erhard Eppler).

Denn Neoliberalismus und Sozialdemokratie sind nicht vereinbar, sondern unvereinbar! Die SPD muss die Alternative zu diesem marktradikalen Denken entwickeln, formulieren, propagieren und durchsetzen müssen.

Ansatzpunkte für diese Alternative gibt es viele und sie sind im Hamburger Grundsatzprogramm beschrieben:

Kostenfreie Bildung für alle; für gute Arbeit und faire Löhne; mehr Demokratie und Teilhabe in Wirtschaft und Gesellschaft; soziale Investitionen des Staates; gleichzeitig fördernde und aktivierende Arbeitsmarktpolitik; bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie; soziale Durchlässigkeit und Gerechtigkeit durch kostenfreie Bildung und Betreuung; Ganztags- und Gemeinschaftsschulen; echte Gleichstellung von Frauen und Männern und Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern; mehr Wirtschaftsdemokratie und öffentliches Eigentum; Energiewende hin zu dezentraler Erzeugung erneuerbarer Energie; ökologische Modernisierung der Volkswirtschaft; angemessene Beteiligung der Vermögenden an Sozialleistungen (Bürgerversicherung, Grundeinkommen) und Steuern (Erbschafts- und Vermögenssteuerreform); nachhaltige Verkehrswende.

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten setzen uns dafür ein, das die mit dem Hamburger Programm beschlossenen Ziele und Visionen konsequent und nachhaltig verfolgt werden. Dazu werden wir konkrete Handlungskonzepte für eine sozial gerechte Gesellschaft entwickeln und für deren Umsetzung eintreten.

Damit formulieren wir zugleich auch Lösungen für die ökonomischen Schäden durch den jetzigen Kapitalismus, die in der letzten Krise offenkundig wurden.

Gemeinsam mit allen gesellschaftlichen Kräften - auch solchen, die der SPD nicht traditionell nahe stehen - werden wir diese Aufgabe bewältigen und nicht allein in internen „Programmkommissionen“. Ohne eine enge Zusammenarbeit mit Gewerkschaften, Sozialverbänden, Kirchen, Beratungsstellen und Umweltverbänden, aber auch mit den Interessenverbänden von Handwerk und Mittelstand wird ein Neustart der SPD nicht gelingen.

Milieuforscher und Demoskopen haben oft beschrieben, dass die SPD das größte Wählerpotential in Deutschland besäße, weil sie prinzipiell die meisten Milieus anspräche und für rund 60% der WählerInnen wählbar sei. Wir stehen vor der Aufgabe, klare (Gegen-)Konzepte mehrheitsfähig zu machen, um die SPD als linke Volkspartei wieder stark zu machen.

Wenn es bei uns darum geht, wie wir leben wollen, und nicht darum, wie wir zu leben haben, dann wird sozialdemokratische Politik wieder mehrheitsfähig, wählbar für jede Generation und vor allem für junge Menschen wieder hoch spannend.

„Die politische Mitte in Deutschland war nie ein fester Ort, nie eine bestimmte Gruppe der Gesellschaft. Die politische Mitte definiert sich nicht durch Einkommens- oder Berufsgruppen und auch nicht durch bestimmte Einstellungen, denen man sich anzupassen habe. Die politische Mitte Willy Brandts war etwas ganz anderes. Sie war kein fester Ort, sondern sie war die Deutungshoheit in der Gesellschaft. Die politische Mitte in einem Land hat der gewonnen, der in den Augen der Mehrheit der Menschen die richtigen Fragen und die richtigen Antworten bereithält. Wenn es eine Lehre aus der Wahlniederlage gibt, dann die, dass sich die SPD nie anderer Leute Deutungshoheit anpassen darf, sondern dass wir immer um unsere Deutungshoheit kämpfen müssen.“ (Sigmar Gabriel)


2. Erneuerung der Sozialdemokratischen Bewegung - Mehr Demokratie wagen – Beteiligung stärken

Opposition ist Mist, denn Opposition bedeutet Machtlosigkeit. Zu dieser Einschätzung kann man nur kommen, wenn die Partei sich wie in der Vergangenheit zu einseitig auf die Regierungsarbeit und ihre Durchsetzung in den Parlamenten und Kommunalvertretungen beschränkt. Regierungsarbeit ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit, aber eben nur ein Ausschnitt der politischen Aktivität unserer Mitglieder. Theorie und Praxis der Sozialdemokratie sind nie davon ausgegangen, dass das Aktionsfeld sozialdemokratischer Reformpolitik einzig und allein die Exekutive und die Parlamente sind, sondern dass sozialdemokratische Werte und Ziele überall in der Gesellschaft entwickelt und durchgesetzt werden müssen.

Während viele unserer Mitglieder ein breites und aktives Engagement in der Gesellschaft entfalten, beschränkt sich die innerparteiliche Agenda zumeist rigide auf die Regierungsarbeit und ihre Durchsetzung in den Parlamenten. In den Parteigremien steht zumeist das obenan, was in den Kommunalvertretungen, im Landtag oder Bundestag zur Debatte steht. So richten sich die meisten der auf Parteitagen vorliegenden Anträge an die Regierungsvertreter oder Parlamentsfraktionen. Das Verständnis dafür, dass viele Tausend unserer Mitglieder in ganz vielen und unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft aktiv sind und sich für andere Menschen einsetzen, ist innerhalb der SPD in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr abhanden gekommen.

Die SPD ist eine Mitgliederpartei. Viele Tausend unserer Mitglieder sind in vielen gesellschaftlichen Vereinen, Verbänden, Initiativen, Organisationen und Institutionen aktiv und arbeiten dort zumeist ehrenamtlich und sie tun dies mit ihren sozialdemokratischen Wertvorstellungen. Sie tun dies in den Sozialverbänden, Gewerkschaften, Sportvereinen, in den Schulen, in Elternbeiräten, in den Kirchen, in der Kultur, in Umweltinitiativen, örtlichen Heimatverbänden, in Personal- und Betriebsräten, in karitativen Vereinen, ja auch als innovative Unternehmer mit sozialem Verständnis und in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft.

Alle arbeiten in ganz verschiedenen Bereichen an derselben Idee und Sache; daran dass unsere Gesellschaft freiheitlicher, demokratischer, humaner, sozialer und gerechter wird.

Wichtig ist das Bewusstsein dafür zu erneuern, dass wir eine sozialdemokratische Bewegung sind, die in ganz verschiedenen Bereichen der Gesellschaft aktiv ist und sich dort mit gleichen Werten und Zielen für gesellschaftliche Veränderung engagiert.

Wer sich auf diese Weise in der Gesellschaft engagiert, dessen Wert, Bedeutung und Stellenwert ist für die Partei genau so wichtig, wie die hauptamtliche Arbeit von Abgeordneten, MinisterInnen oder BürgermeisterInnen.

Deshalb werden wir unsere Mitglieder künftig besser in unsere Parteiarbeit und Entscheidungsprozesse einbinden.

Die Diskussionen nach der Wahl haben gezeigt, dass es eine zunehmende Entfremdung zwischen der Bundes- und Landespolitik der SPD und unseren aktiven Mitgliedern gibt. Unsere Mitglieder beklagen vehement, dass sie insbesondere kaum Einfluss gehabt haben auf die Entscheidungen in der Bundespartei, Bundestagsfraktion und der Bundesregierung. Oben und unten in der Partei haben sich in den vergangenen Jahren immer weiter polarisiert. Die innere Demokratisierung ist eine absolut vordringliche Aufgabe geworden.